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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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ihrem Vergnügen opfern. Ist das Tagewerk vorüber und das Mahl rasch ein¬
genommen, so sucht alle Welt auf die ortsübliche Weise sich zu unterhalten.
"Die Einen füllen die Trinkstuben und Politisiren bei endlosen Libationen von
Absinth und Branntwein: die Andern freqnentiren die Tanzstuben, ans
denen bis Mitternacht wüstes Gejvhl und Gelächter und schrille Weibe¬
stimmen und das triste Gedudel einer verstimmten Fidel auf die Gasse hinaus¬
tönen." Wenn der Arbeiter "älter wird, beginnt der Alkohol ausschließlich
von ihm Besitz zu ergreifen und erniedrigt ihn zu der Stufe der Verthierung
zu dem "ÄdeMsssrnsirt", das ein trauriges Charakteristikum des alten Ouvriers
von Paris ist."

Die "Arbeiterin" aber, die von Romanschriftstellern so sehr verhimmelt
worden, ist im Grunde um kein Haar besser, eher noch schlimmer als der
Ouvrier. In dieser Hinsicht, hat wie wir hier einschalten, schon Alphonse
Daudet in der Heldin feines tapferen ersten Romans seinen Landsleuten das
klare, wenn auch unschöne und widerliche Bild der Wirklichkeit vorgehalten.
Nordau bestätigt Daudet's Schilderung vollkommen. Das Hnndertsousstück
bildet das ganze Leben hindurch das einzige Ideal der Pariser Arbeiterin.
"Als kleines Kind kokettirt sie im Park des Buffes-Chaumont, wo sie an sonnigen
Nachmittagen hernmvagabundirt, mit den schmutznasigen Rangen der Nachbar¬
schaft, und es bleibt nicht einmal immer beim Kokettiren. In die Schule geht
sie nicht oder ganz kurze Zeit. Wenn sie sich zur ersten Kommunion vorbereitet,
erregt im Katechismus das Dogma von der unbefleckten Empfängniß ihr heimliches
Gekicher. Zu zwölf Jahren wird sie in die Lehre gethan, und erhält von den
älteren Arbeiterinnen im Atelier die erste theoretische Anleitung zu den Lebens¬
freuden, die sie bald darauf auf den Nachtbällen und in den Cremerien von
Belleville kennen lernt. Tagüver arbeitet sie wohl mit großer Emsigkeit, allein
während der Arbeit begehen in ihrem Gehirn schmutzige Gedanken tolle Orgien,
die sie zum Theil uach Feierabend in einem rasenden "Chcchut" verwirklichen
kann. Wenn sie nur einen einzigen Liebhaber hat, wird sie vom ganzen Quartier
als ein unfaßbares Muster von Tugend und Keuschheit angestaunt und verehrt;
aber der Fall ist fast beispiellos. Unglaublich schmutzig an Person und Wäsche
ist die Ouvrivi's von einer wahnwitzigen Eitelkeit ans ihre äußere Erscheinung;
"ölls solMs LSL äessu,s", wie man in Paris sagt; und so arm und elend ist
keine, daß sie nicht eine Reispulverschachtel in ihrem Besitze hätte. Sie hat
alle Instinkte, alle Thorheiten, alle Verdorbenheiten der Reichen, dabei aber
eine Gemüthsrohheit, die eine fatale Folge der Erziehungslvsigkeit ist. nervös
wie eine Katze, kapriziös wie ein Papagei, herzlos wie ein Eunuch, erfüllt sie
das Bewußtsein, Pariserin zu sein, mit einer souveränen Arroganz."

Wer nun etwa denken möchte, daß der Verfasser die Schattenseiten pro-


ihrem Vergnügen opfern. Ist das Tagewerk vorüber und das Mahl rasch ein¬
genommen, so sucht alle Welt auf die ortsübliche Weise sich zu unterhalten.
„Die Einen füllen die Trinkstuben und Politisiren bei endlosen Libationen von
Absinth und Branntwein: die Andern freqnentiren die Tanzstuben, ans
denen bis Mitternacht wüstes Gejvhl und Gelächter und schrille Weibe¬
stimmen und das triste Gedudel einer verstimmten Fidel auf die Gasse hinaus¬
tönen." Wenn der Arbeiter „älter wird, beginnt der Alkohol ausschließlich
von ihm Besitz zu ergreifen und erniedrigt ihn zu der Stufe der Verthierung
zu dem „ÄdeMsssrnsirt", das ein trauriges Charakteristikum des alten Ouvriers
von Paris ist."

Die „Arbeiterin" aber, die von Romanschriftstellern so sehr verhimmelt
worden, ist im Grunde um kein Haar besser, eher noch schlimmer als der
Ouvrier. In dieser Hinsicht, hat wie wir hier einschalten, schon Alphonse
Daudet in der Heldin feines tapferen ersten Romans seinen Landsleuten das
klare, wenn auch unschöne und widerliche Bild der Wirklichkeit vorgehalten.
Nordau bestätigt Daudet's Schilderung vollkommen. Das Hnndertsousstück
bildet das ganze Leben hindurch das einzige Ideal der Pariser Arbeiterin.
„Als kleines Kind kokettirt sie im Park des Buffes-Chaumont, wo sie an sonnigen
Nachmittagen hernmvagabundirt, mit den schmutznasigen Rangen der Nachbar¬
schaft, und es bleibt nicht einmal immer beim Kokettiren. In die Schule geht
sie nicht oder ganz kurze Zeit. Wenn sie sich zur ersten Kommunion vorbereitet,
erregt im Katechismus das Dogma von der unbefleckten Empfängniß ihr heimliches
Gekicher. Zu zwölf Jahren wird sie in die Lehre gethan, und erhält von den
älteren Arbeiterinnen im Atelier die erste theoretische Anleitung zu den Lebens¬
freuden, die sie bald darauf auf den Nachtbällen und in den Cremerien von
Belleville kennen lernt. Tagüver arbeitet sie wohl mit großer Emsigkeit, allein
während der Arbeit begehen in ihrem Gehirn schmutzige Gedanken tolle Orgien,
die sie zum Theil uach Feierabend in einem rasenden „Chcchut" verwirklichen
kann. Wenn sie nur einen einzigen Liebhaber hat, wird sie vom ganzen Quartier
als ein unfaßbares Muster von Tugend und Keuschheit angestaunt und verehrt;
aber der Fall ist fast beispiellos. Unglaublich schmutzig an Person und Wäsche
ist die Ouvrivi's von einer wahnwitzigen Eitelkeit ans ihre äußere Erscheinung;
„ölls solMs LSL äessu,s", wie man in Paris sagt; und so arm und elend ist
keine, daß sie nicht eine Reispulverschachtel in ihrem Besitze hätte. Sie hat
alle Instinkte, alle Thorheiten, alle Verdorbenheiten der Reichen, dabei aber
eine Gemüthsrohheit, die eine fatale Folge der Erziehungslvsigkeit ist. nervös
wie eine Katze, kapriziös wie ein Papagei, herzlos wie ein Eunuch, erfüllt sie
das Bewußtsein, Pariserin zu sein, mit einer souveränen Arroganz."

Wer nun etwa denken möchte, daß der Verfasser die Schattenseiten pro-


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[0270] ihrem Vergnügen opfern. Ist das Tagewerk vorüber und das Mahl rasch ein¬ genommen, so sucht alle Welt auf die ortsübliche Weise sich zu unterhalten. „Die Einen füllen die Trinkstuben und Politisiren bei endlosen Libationen von Absinth und Branntwein: die Andern freqnentiren die Tanzstuben, ans denen bis Mitternacht wüstes Gejvhl und Gelächter und schrille Weibe¬ stimmen und das triste Gedudel einer verstimmten Fidel auf die Gasse hinaus¬ tönen." Wenn der Arbeiter „älter wird, beginnt der Alkohol ausschließlich von ihm Besitz zu ergreifen und erniedrigt ihn zu der Stufe der Verthierung zu dem „ÄdeMsssrnsirt", das ein trauriges Charakteristikum des alten Ouvriers von Paris ist." Die „Arbeiterin" aber, die von Romanschriftstellern so sehr verhimmelt worden, ist im Grunde um kein Haar besser, eher noch schlimmer als der Ouvrier. In dieser Hinsicht, hat wie wir hier einschalten, schon Alphonse Daudet in der Heldin feines tapferen ersten Romans seinen Landsleuten das klare, wenn auch unschöne und widerliche Bild der Wirklichkeit vorgehalten. Nordau bestätigt Daudet's Schilderung vollkommen. Das Hnndertsousstück bildet das ganze Leben hindurch das einzige Ideal der Pariser Arbeiterin. „Als kleines Kind kokettirt sie im Park des Buffes-Chaumont, wo sie an sonnigen Nachmittagen hernmvagabundirt, mit den schmutznasigen Rangen der Nachbar¬ schaft, und es bleibt nicht einmal immer beim Kokettiren. In die Schule geht sie nicht oder ganz kurze Zeit. Wenn sie sich zur ersten Kommunion vorbereitet, erregt im Katechismus das Dogma von der unbefleckten Empfängniß ihr heimliches Gekicher. Zu zwölf Jahren wird sie in die Lehre gethan, und erhält von den älteren Arbeiterinnen im Atelier die erste theoretische Anleitung zu den Lebens¬ freuden, die sie bald darauf auf den Nachtbällen und in den Cremerien von Belleville kennen lernt. Tagüver arbeitet sie wohl mit großer Emsigkeit, allein während der Arbeit begehen in ihrem Gehirn schmutzige Gedanken tolle Orgien, die sie zum Theil uach Feierabend in einem rasenden „Chcchut" verwirklichen kann. Wenn sie nur einen einzigen Liebhaber hat, wird sie vom ganzen Quartier als ein unfaßbares Muster von Tugend und Keuschheit angestaunt und verehrt; aber der Fall ist fast beispiellos. Unglaublich schmutzig an Person und Wäsche ist die Ouvrivi's von einer wahnwitzigen Eitelkeit ans ihre äußere Erscheinung; „ölls solMs LSL äessu,s", wie man in Paris sagt; und so arm und elend ist keine, daß sie nicht eine Reispulverschachtel in ihrem Besitze hätte. Sie hat alle Instinkte, alle Thorheiten, alle Verdorbenheiten der Reichen, dabei aber eine Gemüthsrohheit, die eine fatale Folge der Erziehungslvsigkeit ist. nervös wie eine Katze, kapriziös wie ein Papagei, herzlos wie ein Eunuch, erfüllt sie das Bewußtsein, Pariserin zu sein, mit einer souveränen Arroganz." Wer nun etwa denken möchte, daß der Verfasser die Schattenseiten pro-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/270>, abgerufen am 27.07.2024.