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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Welchem sie dein Sohne erklärt, daß er in Weimar nicht in ihren, Hause
wohnen dürfe, rechtfertigt sie diesen Entschluß durch folgende Charakteristik des¬
selben: "Du bist nur auf Tage bei mir zum Besuch gewesen und jedesmal
gab es heftige Scenen um nichts, und jedesmal athmete ich erst frei, wenn
Du weg warst, weil Deine Gegenwart, Deine Klagen über unvermeidliche
Dinge, Deine finstern Gesichter, Deine bizarren Urtheile, die wie Orakelsprüche
von Dir ausgesprochen werden, mich drückten,---um meinen Gesell¬
schaftstagen kannst Du Abends bei mir essen, wenn Du Dich dabei des leidi¬
gen Disputirens, das mich auch verdrießlich macht, wie auch alles Lamentirens
über die dumme Welt und das menschliche Elend enthalten willst, weil mir
das immer eine schlechte Nacht und üble Träume macht und ich gern gut schlafe."

Die Anlässe zu dieser pessimistischen Anschauung glauben wir berührt zu
haben. Eine unglückliche psychische und moralische Naturanlage; der Mangel
einer in sich befriedigten Häuslichkeit; die Disharmonie der Aeltern , die sich
seinem scharfen Auge nicht verborgen hatte; die Oberflächlichkeit und selbstische
Genußsucht der Mutter, die es ihm unmöglich machte, in liebevoller Verehrung
zu ihr empor zu schauen; die Flüchtigkeit des Blicks, mit dem er als Tourist
das menschliche Elend gesehen hatte, dem sich aber das ethische Gegengewicht
gegen dasselbe, die innere sittliche Welt des Gemüthslebens nicht hatte zeigen
können; endlich die ideal-melancholische Stimmung, die so häufig der Jugend
eigen ist; das sind Momente, die ausreichen, um seiue Eigenart, wie sie sich
bis dahin ausgestaltet hatte, zu begreifen. Ihr entsprach es, daß seine künst¬
lerischen Neigungen sich vor allem der Musik zuwandten und er in ihr die
Macht fand, die wenigstens zeitweise die ihn bedrückenden bangen Stimmungen
verscheuchte. Denn in der Welt der Töne verflüchtigt sich das Einzelne, traum¬
haft ziehen die Geister der Wirklichkeit an der Seele vorüber, ihre Gestalten
verschwinden, und nur ihre Stimmen werden vernehmbar. Die Musik mußte
eine Weltanschauung, der die Sichtbarkeit nur ein trügerischer Schein ist, be¬
günstigen, und wir begreifen es sehr wohl, daß die Philosophie Schopenhauer's
der Musik eine so bevorzugte Stellung eingeräumt hat.

Aber noch war in Schopenhauer Alles flüssig, nach verschiedenen Richtungen
hin konnte sein Weg führen. Es fragte sich, welchen er einschlagen werde.

Einflußreich war die Wahl der Universität Göttingen zur Fortsetzung
seiner Studien. Hier lehrte der Kantianer Schulze. Durch ihn wurde er auf
Kant, zugleich auf Platon hingewiesen. Beider Philosophie war geeignet, die
Grundstimmung seines inneren Lebens zu befestigen. Die Nichtigkeit der
Sinnenwelt, die Platon lehrte; die Bestimmung der räumlich-zeitlichen Welt
als Welt der Erscheinung und der Nachweis des radikalen Bösen in der
menschlichen Natur, wie sie von Kant gegeben wurden, mußten seiner sein-


Welchem sie dein Sohne erklärt, daß er in Weimar nicht in ihren, Hause
wohnen dürfe, rechtfertigt sie diesen Entschluß durch folgende Charakteristik des¬
selben: „Du bist nur auf Tage bei mir zum Besuch gewesen und jedesmal
gab es heftige Scenen um nichts, und jedesmal athmete ich erst frei, wenn
Du weg warst, weil Deine Gegenwart, Deine Klagen über unvermeidliche
Dinge, Deine finstern Gesichter, Deine bizarren Urtheile, die wie Orakelsprüche
von Dir ausgesprochen werden, mich drückten,---um meinen Gesell¬
schaftstagen kannst Du Abends bei mir essen, wenn Du Dich dabei des leidi¬
gen Disputirens, das mich auch verdrießlich macht, wie auch alles Lamentirens
über die dumme Welt und das menschliche Elend enthalten willst, weil mir
das immer eine schlechte Nacht und üble Träume macht und ich gern gut schlafe."

Die Anlässe zu dieser pessimistischen Anschauung glauben wir berührt zu
haben. Eine unglückliche psychische und moralische Naturanlage; der Mangel
einer in sich befriedigten Häuslichkeit; die Disharmonie der Aeltern , die sich
seinem scharfen Auge nicht verborgen hatte; die Oberflächlichkeit und selbstische
Genußsucht der Mutter, die es ihm unmöglich machte, in liebevoller Verehrung
zu ihr empor zu schauen; die Flüchtigkeit des Blicks, mit dem er als Tourist
das menschliche Elend gesehen hatte, dem sich aber das ethische Gegengewicht
gegen dasselbe, die innere sittliche Welt des Gemüthslebens nicht hatte zeigen
können; endlich die ideal-melancholische Stimmung, die so häufig der Jugend
eigen ist; das sind Momente, die ausreichen, um seiue Eigenart, wie sie sich
bis dahin ausgestaltet hatte, zu begreifen. Ihr entsprach es, daß seine künst¬
lerischen Neigungen sich vor allem der Musik zuwandten und er in ihr die
Macht fand, die wenigstens zeitweise die ihn bedrückenden bangen Stimmungen
verscheuchte. Denn in der Welt der Töne verflüchtigt sich das Einzelne, traum¬
haft ziehen die Geister der Wirklichkeit an der Seele vorüber, ihre Gestalten
verschwinden, und nur ihre Stimmen werden vernehmbar. Die Musik mußte
eine Weltanschauung, der die Sichtbarkeit nur ein trügerischer Schein ist, be¬
günstigen, und wir begreifen es sehr wohl, daß die Philosophie Schopenhauer's
der Musik eine so bevorzugte Stellung eingeräumt hat.

Aber noch war in Schopenhauer Alles flüssig, nach verschiedenen Richtungen
hin konnte sein Weg führen. Es fragte sich, welchen er einschlagen werde.

Einflußreich war die Wahl der Universität Göttingen zur Fortsetzung
seiner Studien. Hier lehrte der Kantianer Schulze. Durch ihn wurde er auf
Kant, zugleich auf Platon hingewiesen. Beider Philosophie war geeignet, die
Grundstimmung seines inneren Lebens zu befestigen. Die Nichtigkeit der
Sinnenwelt, die Platon lehrte; die Bestimmung der räumlich-zeitlichen Welt
als Welt der Erscheinung und der Nachweis des radikalen Bösen in der
menschlichen Natur, wie sie von Kant gegeben wurden, mußten seiner sein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/209>, abgerufen am 01.09.2024.