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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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ganze Rindvieh angeschaut und unter dem diese Eigenschaft andeutenden Namen
wird das ganze Rindvieh verstanden, und zwar als Erfolg der inneren Sprach¬
form, worunter eben die durch die Sprache, durch die Namengebung festge¬
haltene einseitige Beziehung der vielseitigen Sache zum Menschen verstanden wird.

Das Wesen derselben tritt noch lebendiger hervor in der 3. Stufe der
Sprachschöpfuug, der es arakterisirenden. In ihr werden keine neuen
Namen ursprünglich geschaffen, sondern vorhandene neu angewendet oder ver¬
ändert. So wird der Wolf (ursprünglich der Zerreißende) mit einem Wort
aus der schon vorhandenen Wurzel zerreißen benannt; so bedeutet Mond:
Zeitmesser, Sonne: der Erzeuger; Erde: die Gepflügte. Das lateinische domo
bezeichnet den Menschen als Erdgeborenen, das deutsche Mann und Mensch
bezeichnet ihn als Denker (S. 140). Oder aus der einen Wurzel, welche die An¬
schauung des Fliegens bezeichnet, werden Wörter gebildet, wie Vogel, Flügel,
Flug u. s. w.

Hier ist klar, daß die innere Sprachform eine bestimmte Weise der Apper¬
zeption ist, klar ist aber auch wie diese bestimmte Art der Apperzeption von
Einfluß auf die ganze Ausbildung und Denkanschauung eines Menschen, ja
eines Volkes werden kann. Welch ein Unterschied knüpft sich daran, ob ein Volk
sich gewöhnt in erster Linie sich als domo d, h. Erdgeborner, oder als Mensch d. h.
Denker aufzufassen! Die Wirkung solcher Apperzeption dauert an, auch wenn
im Volksbewußtsein die Wurzelbedeutung des von seinen Ahnen, erzeugte"
und wohl unter vielen Wörtern vorzugsweise festgehaltenen Wortes längst ver¬
loren ging. Klar ist aber auch dabei, daß Lazarus recht hat, wenn er S. 168
entwickelt, daß die Kinder nicht Sprache überhaupt, sondern unsere Sprache
lernen müssen. Denn als Glieder einer Gesellschaft müssen sie sich die Apper¬
zeptionsweise der Dinge aneignen, die sich im Laufe der Zeit in der Sprache
dieser Gesellschaft festsetzte. Wie sehr dadurch die Sprache, obgleich sie so
mächtig geistbefreiende Kraft hat, doch auch eine Fessel im Leben der Seele
sein kann; dies ist bei Lazarus selbst näher zu betrachten- Und wir wünschen
seiner geistvollen Schrift um so mehr verbreitete Leser und Aneigner ihres
Inhalts, je mehr sie einen fast vergessenen Nachweis Kant's wieder zum Be¬
wußtsein bringt und lebensvoller begründet, den Nachweis, daß des Menschen
Geist eine synthetische Kraft ist und daß er durch diese Kraft eine Kraft der
Wahrheit und fortschreitender Erkenntniß ist. Die Sprache freilich, von der
neuerdings behauptet wird, daß sie den Menschen erst zum Menschen gemacht
habe, erscheint hierbei von untergeordneterem Werthe. Denn schon und auch im
vorsprachlichen, sprachlosen Denken (S. 348 ff.), wie der plastischen Künste, Musik,
der individuellen Anschauungen, bethätigt sich der Mensch als Mensch, das heißt
als synthetisch apperzipirende Kraft, und nur weil er von Natur aus solche


ganze Rindvieh angeschaut und unter dem diese Eigenschaft andeutenden Namen
wird das ganze Rindvieh verstanden, und zwar als Erfolg der inneren Sprach¬
form, worunter eben die durch die Sprache, durch die Namengebung festge¬
haltene einseitige Beziehung der vielseitigen Sache zum Menschen verstanden wird.

Das Wesen derselben tritt noch lebendiger hervor in der 3. Stufe der
Sprachschöpfuug, der es arakterisirenden. In ihr werden keine neuen
Namen ursprünglich geschaffen, sondern vorhandene neu angewendet oder ver¬
ändert. So wird der Wolf (ursprünglich der Zerreißende) mit einem Wort
aus der schon vorhandenen Wurzel zerreißen benannt; so bedeutet Mond:
Zeitmesser, Sonne: der Erzeuger; Erde: die Gepflügte. Das lateinische domo
bezeichnet den Menschen als Erdgeborenen, das deutsche Mann und Mensch
bezeichnet ihn als Denker (S. 140). Oder aus der einen Wurzel, welche die An¬
schauung des Fliegens bezeichnet, werden Wörter gebildet, wie Vogel, Flügel,
Flug u. s. w.

Hier ist klar, daß die innere Sprachform eine bestimmte Weise der Apper¬
zeption ist, klar ist aber auch wie diese bestimmte Art der Apperzeption von
Einfluß auf die ganze Ausbildung und Denkanschauung eines Menschen, ja
eines Volkes werden kann. Welch ein Unterschied knüpft sich daran, ob ein Volk
sich gewöhnt in erster Linie sich als domo d, h. Erdgeborner, oder als Mensch d. h.
Denker aufzufassen! Die Wirkung solcher Apperzeption dauert an, auch wenn
im Volksbewußtsein die Wurzelbedeutung des von seinen Ahnen, erzeugte»
und wohl unter vielen Wörtern vorzugsweise festgehaltenen Wortes längst ver¬
loren ging. Klar ist aber auch dabei, daß Lazarus recht hat, wenn er S. 168
entwickelt, daß die Kinder nicht Sprache überhaupt, sondern unsere Sprache
lernen müssen. Denn als Glieder einer Gesellschaft müssen sie sich die Apper¬
zeptionsweise der Dinge aneignen, die sich im Laufe der Zeit in der Sprache
dieser Gesellschaft festsetzte. Wie sehr dadurch die Sprache, obgleich sie so
mächtig geistbefreiende Kraft hat, doch auch eine Fessel im Leben der Seele
sein kann; dies ist bei Lazarus selbst näher zu betrachten- Und wir wünschen
seiner geistvollen Schrift um so mehr verbreitete Leser und Aneigner ihres
Inhalts, je mehr sie einen fast vergessenen Nachweis Kant's wieder zum Be¬
wußtsein bringt und lebensvoller begründet, den Nachweis, daß des Menschen
Geist eine synthetische Kraft ist und daß er durch diese Kraft eine Kraft der
Wahrheit und fortschreitender Erkenntniß ist. Die Sprache freilich, von der
neuerdings behauptet wird, daß sie den Menschen erst zum Menschen gemacht
habe, erscheint hierbei von untergeordneterem Werthe. Denn schon und auch im
vorsprachlichen, sprachlosen Denken (S. 348 ff.), wie der plastischen Künste, Musik,
der individuellen Anschauungen, bethätigt sich der Mensch als Mensch, das heißt
als synthetisch apperzipirende Kraft, und nur weil er von Natur aus solche


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[0192] ganze Rindvieh angeschaut und unter dem diese Eigenschaft andeutenden Namen wird das ganze Rindvieh verstanden, und zwar als Erfolg der inneren Sprach¬ form, worunter eben die durch die Sprache, durch die Namengebung festge¬ haltene einseitige Beziehung der vielseitigen Sache zum Menschen verstanden wird. Das Wesen derselben tritt noch lebendiger hervor in der 3. Stufe der Sprachschöpfuug, der es arakterisirenden. In ihr werden keine neuen Namen ursprünglich geschaffen, sondern vorhandene neu angewendet oder ver¬ ändert. So wird der Wolf (ursprünglich der Zerreißende) mit einem Wort aus der schon vorhandenen Wurzel zerreißen benannt; so bedeutet Mond: Zeitmesser, Sonne: der Erzeuger; Erde: die Gepflügte. Das lateinische domo bezeichnet den Menschen als Erdgeborenen, das deutsche Mann und Mensch bezeichnet ihn als Denker (S. 140). Oder aus der einen Wurzel, welche die An¬ schauung des Fliegens bezeichnet, werden Wörter gebildet, wie Vogel, Flügel, Flug u. s. w. Hier ist klar, daß die innere Sprachform eine bestimmte Weise der Apper¬ zeption ist, klar ist aber auch wie diese bestimmte Art der Apperzeption von Einfluß auf die ganze Ausbildung und Denkanschauung eines Menschen, ja eines Volkes werden kann. Welch ein Unterschied knüpft sich daran, ob ein Volk sich gewöhnt in erster Linie sich als domo d, h. Erdgeborner, oder als Mensch d. h. Denker aufzufassen! Die Wirkung solcher Apperzeption dauert an, auch wenn im Volksbewußtsein die Wurzelbedeutung des von seinen Ahnen, erzeugte» und wohl unter vielen Wörtern vorzugsweise festgehaltenen Wortes längst ver¬ loren ging. Klar ist aber auch dabei, daß Lazarus recht hat, wenn er S. 168 entwickelt, daß die Kinder nicht Sprache überhaupt, sondern unsere Sprache lernen müssen. Denn als Glieder einer Gesellschaft müssen sie sich die Apper¬ zeptionsweise der Dinge aneignen, die sich im Laufe der Zeit in der Sprache dieser Gesellschaft festsetzte. Wie sehr dadurch die Sprache, obgleich sie so mächtig geistbefreiende Kraft hat, doch auch eine Fessel im Leben der Seele sein kann; dies ist bei Lazarus selbst näher zu betrachten- Und wir wünschen seiner geistvollen Schrift um so mehr verbreitete Leser und Aneigner ihres Inhalts, je mehr sie einen fast vergessenen Nachweis Kant's wieder zum Be¬ wußtsein bringt und lebensvoller begründet, den Nachweis, daß des Menschen Geist eine synthetische Kraft ist und daß er durch diese Kraft eine Kraft der Wahrheit und fortschreitender Erkenntniß ist. Die Sprache freilich, von der neuerdings behauptet wird, daß sie den Menschen erst zum Menschen gemacht habe, erscheint hierbei von untergeordneterem Werthe. Denn schon und auch im vorsprachlichen, sprachlosen Denken (S. 348 ff.), wie der plastischen Künste, Musik, der individuellen Anschauungen, bethätigt sich der Mensch als Mensch, das heißt als synthetisch apperzipirende Kraft, und nur weil er von Natur aus solche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/192>, abgerufen am 01.09.2024.