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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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lungen über ihre ersten Orientirungsversnche beschränken mußten. Allein Alles
in Allem gehört die Sammlung zu dem Besten und Instruktivsten, was seit
Jahr und Tag über die brennende Frage des modernen Arbeitsverhältnisses
veröffentlicht worden ist. *)

Freilich eine erheiternde Lektüre ist sie nicht; mit eisernem Besen zerstört
sie Illusionen über Illusionen, wie sie in Herzen und Köpfen gutherziger
Enthusiasten zu wuchern pflegen, so bald es sich um die Arbeiterfrage handelt.
Im Allgemeinen kann man konstatiren, daß Alles, was und wieviel immer
seit zehn Jahren über das Arbeitsverhältniß geschrieben, gesprochen und be¬
schlossen wurde, spurlos an denen vorübergerauscht ist, die es am nächsten
anging. Durch fast alle Berichte der Fabrikinspektoren hallt die Klage, daß
die Gewerbegesetzgebung eine vollkommene terra InovAnitg, ebenso unter den
Arbeitgebern, wie den Arbeitnehmern sei. Wo man einmal davon läuten ge¬
hört hat, ist mau längst wieder auf die Bärenhaut gesunken unter der ein¬
schläfernden Vorstellung, "der Staat habe diese Gesetze wohl längst wieder
fallen lassen." Ueberall müssen die Fabrikinspektoren aus dem Groben und
Vollen heraus arbeiten; "Alles fehlt", wie einer von ihnen schreibt, "was
einen gesetzmäßigen Zustand charakterisirt." Wo sie zuerst auftauchen, werden
sie von Fabrikanten und Arbeitern mit Feindseligkeit, Mißtrauen, Widerwillen
empfangen; mau betrachtet und behandelt sie demgemäß als unnütze Stören¬
friede; als Reichssteuerbeamten, welche neue Finanzquellen entdecken wollen;
als Spione, die Fabrikgeheimnisse auskundschaften sollen; ja wohl gar als
Reiseprediger der Sozialdemokratie; bestenfalls als Baubeamte und Kesselrevi¬
soren. Mühsam müssen sie das Dickicht von Mißverständnissen zerstören, in
den Unternehmern ein Bewußtsein ihrer gesetzlichen Pflichten, in den Arbeitern
ein Bewußtsein ihrer gesetzlichen Rechte erwecken; oft genug zeigt sich die tröst¬
lich-untröstliche Erscheinung, daß Ersteres eher gelingt, wie-Letzteres. Nament¬
lich in Bezirken, in denen die Sozialdemokratie Oberwasser hat, zeigen sich
die Arbeiter als ein dumpfes, träges, jeder eigenen Initiative baares Geschlecht
worauf noch weiter zurückzukommen sein wird; in diesen trockenen Berichten,
so wenig sie selbstverständlich darauf hinweisen, wird jene sinnlose Prahlerei
gründlich zerstört von dem "vierten Stande", der in der Revolution von 1848
sein erstes, mündiges Wort gesprochen habe und nunmehr im klaren und vollen
Bewußtsein einer großen Zukunft mit ehernen Armen eine entartete und ver¬
kommene Bourgeoisie umklammere und erdrücken werde. Wie ganz anders



") Jahresberichte der Fabrikinspektoren für das Jahr 1876. Veröffentlicht auf An¬
ordnung des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. Berlin, Fr. Kort-
kampf.

lungen über ihre ersten Orientirungsversnche beschränken mußten. Allein Alles
in Allem gehört die Sammlung zu dem Besten und Instruktivsten, was seit
Jahr und Tag über die brennende Frage des modernen Arbeitsverhältnisses
veröffentlicht worden ist. *)

Freilich eine erheiternde Lektüre ist sie nicht; mit eisernem Besen zerstört
sie Illusionen über Illusionen, wie sie in Herzen und Köpfen gutherziger
Enthusiasten zu wuchern pflegen, so bald es sich um die Arbeiterfrage handelt.
Im Allgemeinen kann man konstatiren, daß Alles, was und wieviel immer
seit zehn Jahren über das Arbeitsverhältniß geschrieben, gesprochen und be¬
schlossen wurde, spurlos an denen vorübergerauscht ist, die es am nächsten
anging. Durch fast alle Berichte der Fabrikinspektoren hallt die Klage, daß
die Gewerbegesetzgebung eine vollkommene terra InovAnitg, ebenso unter den
Arbeitgebern, wie den Arbeitnehmern sei. Wo man einmal davon läuten ge¬
hört hat, ist mau längst wieder auf die Bärenhaut gesunken unter der ein¬
schläfernden Vorstellung, „der Staat habe diese Gesetze wohl längst wieder
fallen lassen." Ueberall müssen die Fabrikinspektoren aus dem Groben und
Vollen heraus arbeiten; „Alles fehlt", wie einer von ihnen schreibt, „was
einen gesetzmäßigen Zustand charakterisirt." Wo sie zuerst auftauchen, werden
sie von Fabrikanten und Arbeitern mit Feindseligkeit, Mißtrauen, Widerwillen
empfangen; mau betrachtet und behandelt sie demgemäß als unnütze Stören¬
friede; als Reichssteuerbeamten, welche neue Finanzquellen entdecken wollen;
als Spione, die Fabrikgeheimnisse auskundschaften sollen; ja wohl gar als
Reiseprediger der Sozialdemokratie; bestenfalls als Baubeamte und Kesselrevi¬
soren. Mühsam müssen sie das Dickicht von Mißverständnissen zerstören, in
den Unternehmern ein Bewußtsein ihrer gesetzlichen Pflichten, in den Arbeitern
ein Bewußtsein ihrer gesetzlichen Rechte erwecken; oft genug zeigt sich die tröst¬
lich-untröstliche Erscheinung, daß Ersteres eher gelingt, wie-Letzteres. Nament¬
lich in Bezirken, in denen die Sozialdemokratie Oberwasser hat, zeigen sich
die Arbeiter als ein dumpfes, träges, jeder eigenen Initiative baares Geschlecht
worauf noch weiter zurückzukommen sein wird; in diesen trockenen Berichten,
so wenig sie selbstverständlich darauf hinweisen, wird jene sinnlose Prahlerei
gründlich zerstört von dem „vierten Stande", der in der Revolution von 1848
sein erstes, mündiges Wort gesprochen habe und nunmehr im klaren und vollen
Bewußtsein einer großen Zukunft mit ehernen Armen eine entartete und ver¬
kommene Bourgeoisie umklammere und erdrücken werde. Wie ganz anders



») Jahresberichte der Fabrikinspektoren für das Jahr 1876. Veröffentlicht auf An¬
ordnung des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. Berlin, Fr. Kort-
kampf.
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[0466] lungen über ihre ersten Orientirungsversnche beschränken mußten. Allein Alles in Allem gehört die Sammlung zu dem Besten und Instruktivsten, was seit Jahr und Tag über die brennende Frage des modernen Arbeitsverhältnisses veröffentlicht worden ist. *) Freilich eine erheiternde Lektüre ist sie nicht; mit eisernem Besen zerstört sie Illusionen über Illusionen, wie sie in Herzen und Köpfen gutherziger Enthusiasten zu wuchern pflegen, so bald es sich um die Arbeiterfrage handelt. Im Allgemeinen kann man konstatiren, daß Alles, was und wieviel immer seit zehn Jahren über das Arbeitsverhältniß geschrieben, gesprochen und be¬ schlossen wurde, spurlos an denen vorübergerauscht ist, die es am nächsten anging. Durch fast alle Berichte der Fabrikinspektoren hallt die Klage, daß die Gewerbegesetzgebung eine vollkommene terra InovAnitg, ebenso unter den Arbeitgebern, wie den Arbeitnehmern sei. Wo man einmal davon läuten ge¬ hört hat, ist mau längst wieder auf die Bärenhaut gesunken unter der ein¬ schläfernden Vorstellung, „der Staat habe diese Gesetze wohl längst wieder fallen lassen." Ueberall müssen die Fabrikinspektoren aus dem Groben und Vollen heraus arbeiten; „Alles fehlt", wie einer von ihnen schreibt, „was einen gesetzmäßigen Zustand charakterisirt." Wo sie zuerst auftauchen, werden sie von Fabrikanten und Arbeitern mit Feindseligkeit, Mißtrauen, Widerwillen empfangen; mau betrachtet und behandelt sie demgemäß als unnütze Stören¬ friede; als Reichssteuerbeamten, welche neue Finanzquellen entdecken wollen; als Spione, die Fabrikgeheimnisse auskundschaften sollen; ja wohl gar als Reiseprediger der Sozialdemokratie; bestenfalls als Baubeamte und Kesselrevi¬ soren. Mühsam müssen sie das Dickicht von Mißverständnissen zerstören, in den Unternehmern ein Bewußtsein ihrer gesetzlichen Pflichten, in den Arbeitern ein Bewußtsein ihrer gesetzlichen Rechte erwecken; oft genug zeigt sich die tröst¬ lich-untröstliche Erscheinung, daß Ersteres eher gelingt, wie-Letzteres. Nament¬ lich in Bezirken, in denen die Sozialdemokratie Oberwasser hat, zeigen sich die Arbeiter als ein dumpfes, träges, jeder eigenen Initiative baares Geschlecht worauf noch weiter zurückzukommen sein wird; in diesen trockenen Berichten, so wenig sie selbstverständlich darauf hinweisen, wird jene sinnlose Prahlerei gründlich zerstört von dem „vierten Stande", der in der Revolution von 1848 sein erstes, mündiges Wort gesprochen habe und nunmehr im klaren und vollen Bewußtsein einer großen Zukunft mit ehernen Armen eine entartete und ver¬ kommene Bourgeoisie umklammere und erdrücken werde. Wie ganz anders ») Jahresberichte der Fabrikinspektoren für das Jahr 1876. Veröffentlicht auf An¬ ordnung des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. Berlin, Fr. Kort- kampf.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/466>, abgerufen am 20.10.2024.