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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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scheint indessen fast noch schlimmer als die der Italiener des Renaissancezeit¬
alters. Hatte doch der Demos von Athen bei Todesstrafe verboten, auch nur
darauf einzutragen, daß die Ueberschüsse des Staatseinkommens sür das Kriegs¬
wesen angewiesen würden, weil man sie hergebrachtermaßen zu Festen und
Belustigungen verwenden wollte. -- Staunen muß man, daß unter solchen
Umständen die Beredsamkeit des Demosthenes überhaupt eine Erhebung er¬
möglichte. Und doch war dies der Fall. Theben und Athen reichten sich die
Hände; sie entschlossen sich zum Widerstande, und als im Jahre 338 auf dem
Gefilde von Chaironeia die Heere aufeinanderstießen, da bestand die über¬
wiegende Mehrzahl der hellenischen Kämpfer wirklich aus den Aufgeboten der
Bürgerschaften; nur die Mitte der Schlachtordnung füllten Söldnerschaaren. --
Bemerkenswerth ist das Verhalten der makedonischer Fürsten in dieser Schlacht.
Der König führte die Ritterschaft der Hetairen, welche den rechten Flügel inne
hatte; sein Sohn befehligte auf dem linken Flügel die thessalische Reiterei.
Philippos durchbrach die andrängenden Schaaren seiner Gegner nicht; er zog
die Phalangen des Fußvolks sogar zurück; Alexandros dagegen ging rücksichts¬
los vor; der thebanische Flügel erlag seinem Reitersturm. Mann bei Mann,
wie sie aufmarschirt gewesen, ward die "heilige Schaar" dahingestreckt. Und
nun sank auch der Flügel der Athener zusammen unter dem Stoße der philip¬
pischen Sarissen. -- Das letzte verspätete Wiederaufraffen der Bürgerkriegs¬
kraft von Hellas konnte dem Volke nur noch eins erkämpfen: den ehrenvollen
Untergang.

Achtundsechzig Jahre nach der Einnahme Athens durch Lysander, 33 Jahre
nach der Schlacht bei Leuktra ging die Unabhängigkeit Griechenlands verloren,
ohne daß Sparta auch nur im Geringsten für sie eingetreten wäre. König
Archidamas, welcher mit seinen Spartiaten gegen Philippos hätte den Aus¬
schlag geben können, fiel an dem Tage von Chaironeia in weiter Ferne, indem
er den Tarentinern gegen die Lukaner beistand. -- Ihrer Heeressitte gemäß
errichteten die Makedonier auf dem Siegesfelde kein Tropaion; gewiß auch
hier in dem Sinne, "daß man nicht Feinde unterworfen, sondern Freunde
gewonnen habe."

War an der griechischen Freiheit, die hier zum letztenmal": in die
Schranken trat, in Wahrheit viel verloren? --Aristoteles erkannte es wohl, daß
"das Königthum allein im Stande sei, über den Parteien zu stehen, welche
das griechische Staatswesen zerrütteten." Die so oft versuchte Tyrannis habe
dies Werk nicht vollbringen können; denn "sie stehe nicht wie das allbegründete
Königthum auf eigenem Recht, sondern auf der Gunst des Demos oder auf
Gewalt und Unrecht." -- Gewiß dachten Viele wie jener attische Mann, der


scheint indessen fast noch schlimmer als die der Italiener des Renaissancezeit¬
alters. Hatte doch der Demos von Athen bei Todesstrafe verboten, auch nur
darauf einzutragen, daß die Ueberschüsse des Staatseinkommens sür das Kriegs¬
wesen angewiesen würden, weil man sie hergebrachtermaßen zu Festen und
Belustigungen verwenden wollte. — Staunen muß man, daß unter solchen
Umständen die Beredsamkeit des Demosthenes überhaupt eine Erhebung er¬
möglichte. Und doch war dies der Fall. Theben und Athen reichten sich die
Hände; sie entschlossen sich zum Widerstande, und als im Jahre 338 auf dem
Gefilde von Chaironeia die Heere aufeinanderstießen, da bestand die über¬
wiegende Mehrzahl der hellenischen Kämpfer wirklich aus den Aufgeboten der
Bürgerschaften; nur die Mitte der Schlachtordnung füllten Söldnerschaaren. —
Bemerkenswerth ist das Verhalten der makedonischer Fürsten in dieser Schlacht.
Der König führte die Ritterschaft der Hetairen, welche den rechten Flügel inne
hatte; sein Sohn befehligte auf dem linken Flügel die thessalische Reiterei.
Philippos durchbrach die andrängenden Schaaren seiner Gegner nicht; er zog
die Phalangen des Fußvolks sogar zurück; Alexandros dagegen ging rücksichts¬
los vor; der thebanische Flügel erlag seinem Reitersturm. Mann bei Mann,
wie sie aufmarschirt gewesen, ward die „heilige Schaar" dahingestreckt. Und
nun sank auch der Flügel der Athener zusammen unter dem Stoße der philip¬
pischen Sarissen. — Das letzte verspätete Wiederaufraffen der Bürgerkriegs¬
kraft von Hellas konnte dem Volke nur noch eins erkämpfen: den ehrenvollen
Untergang.

Achtundsechzig Jahre nach der Einnahme Athens durch Lysander, 33 Jahre
nach der Schlacht bei Leuktra ging die Unabhängigkeit Griechenlands verloren,
ohne daß Sparta auch nur im Geringsten für sie eingetreten wäre. König
Archidamas, welcher mit seinen Spartiaten gegen Philippos hätte den Aus¬
schlag geben können, fiel an dem Tage von Chaironeia in weiter Ferne, indem
er den Tarentinern gegen die Lukaner beistand. — Ihrer Heeressitte gemäß
errichteten die Makedonier auf dem Siegesfelde kein Tropaion; gewiß auch
hier in dem Sinne, „daß man nicht Feinde unterworfen, sondern Freunde
gewonnen habe."

War an der griechischen Freiheit, die hier zum letztenmal«: in die
Schranken trat, in Wahrheit viel verloren? —Aristoteles erkannte es wohl, daß
„das Königthum allein im Stande sei, über den Parteien zu stehen, welche
das griechische Staatswesen zerrütteten." Die so oft versuchte Tyrannis habe
dies Werk nicht vollbringen können; denn „sie stehe nicht wie das allbegründete
Königthum auf eigenem Recht, sondern auf der Gunst des Demos oder auf
Gewalt und Unrecht." — Gewiß dachten Viele wie jener attische Mann, der


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[0432] scheint indessen fast noch schlimmer als die der Italiener des Renaissancezeit¬ alters. Hatte doch der Demos von Athen bei Todesstrafe verboten, auch nur darauf einzutragen, daß die Ueberschüsse des Staatseinkommens sür das Kriegs¬ wesen angewiesen würden, weil man sie hergebrachtermaßen zu Festen und Belustigungen verwenden wollte. — Staunen muß man, daß unter solchen Umständen die Beredsamkeit des Demosthenes überhaupt eine Erhebung er¬ möglichte. Und doch war dies der Fall. Theben und Athen reichten sich die Hände; sie entschlossen sich zum Widerstande, und als im Jahre 338 auf dem Gefilde von Chaironeia die Heere aufeinanderstießen, da bestand die über¬ wiegende Mehrzahl der hellenischen Kämpfer wirklich aus den Aufgeboten der Bürgerschaften; nur die Mitte der Schlachtordnung füllten Söldnerschaaren. — Bemerkenswerth ist das Verhalten der makedonischer Fürsten in dieser Schlacht. Der König führte die Ritterschaft der Hetairen, welche den rechten Flügel inne hatte; sein Sohn befehligte auf dem linken Flügel die thessalische Reiterei. Philippos durchbrach die andrängenden Schaaren seiner Gegner nicht; er zog die Phalangen des Fußvolks sogar zurück; Alexandros dagegen ging rücksichts¬ los vor; der thebanische Flügel erlag seinem Reitersturm. Mann bei Mann, wie sie aufmarschirt gewesen, ward die „heilige Schaar" dahingestreckt. Und nun sank auch der Flügel der Athener zusammen unter dem Stoße der philip¬ pischen Sarissen. — Das letzte verspätete Wiederaufraffen der Bürgerkriegs¬ kraft von Hellas konnte dem Volke nur noch eins erkämpfen: den ehrenvollen Untergang. Achtundsechzig Jahre nach der Einnahme Athens durch Lysander, 33 Jahre nach der Schlacht bei Leuktra ging die Unabhängigkeit Griechenlands verloren, ohne daß Sparta auch nur im Geringsten für sie eingetreten wäre. König Archidamas, welcher mit seinen Spartiaten gegen Philippos hätte den Aus¬ schlag geben können, fiel an dem Tage von Chaironeia in weiter Ferne, indem er den Tarentinern gegen die Lukaner beistand. — Ihrer Heeressitte gemäß errichteten die Makedonier auf dem Siegesfelde kein Tropaion; gewiß auch hier in dem Sinne, „daß man nicht Feinde unterworfen, sondern Freunde gewonnen habe." War an der griechischen Freiheit, die hier zum letztenmal«: in die Schranken trat, in Wahrheit viel verloren? —Aristoteles erkannte es wohl, daß „das Königthum allein im Stande sei, über den Parteien zu stehen, welche das griechische Staatswesen zerrütteten." Die so oft versuchte Tyrannis habe dies Werk nicht vollbringen können; denn „sie stehe nicht wie das allbegründete Königthum auf eigenem Recht, sondern auf der Gunst des Demos oder auf Gewalt und Unrecht." — Gewiß dachten Viele wie jener attische Mann, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/432>, abgerufen am 20.10.2024.