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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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fertige Verletzung des positiven Gesetzes nie gerechtfertigt werden kann; daß
es unter Umständen sogar rathsam ist, lieber ungesunde Zustände zu tragen,
als durch ihre gewaltsame Beseitigung eine Erschütterung im Volksbewußtsein
herbeizuführen, deren Tragweite nicht zu beimessen ist, darf einem gewissen¬
haften Staatsmanne nicht zweifelhaft fein. Aber feststehen muß der Grundsatz:
das positive Recht darf nicht eine Heiligkeit in Anspruch nehmen, das nur dem
natürlichen Recht zukommt.

Die Polemik gegen die Gegner der Annexion Elsaß-Lothringens und das
Bedürfniß, das innere Recht derselben zu erweisen, hat den zweiten politischen
Aufsatz: "Das Recht der Nationalität und die freie Selbstbestimmung der Völ¬
ker" veranlaßt. Derselbe war vor dem Friedensschluß geschrieben und die
Erregung der deutschen Nation, die bange Sorge, daß auch diesmal ihr der
Lohn des Sieges genommen werden könne, ist in ihm deutlich spürbar. Es
ist der frischeste und wärmste Aufsatz der Sammlung, die Lebendigkeit des
patriotischen Bewußtseins klingt überall dnrch. Es sind zwei Fragen, um
deren Beantwortung es sich handelt. Ist es erlaubt, Bestandtheile fremder
Nationalitüteu in den Staatsverbnnd aufzunehmen, lautet die erste. Zeller
erledigt sie, indem er Einheit der Sprache und Abstammung allerdings als
eine wesentliche Bedingung, aber nicht als die alleinige, für die gesunde Ent¬
wickelung des Staatslebens bezeichnet. Giebt es doch kaum einen größeren
Staat, der nicht eine Minorität stammesfremder Elemente in sich schließt.
In der Schweiz und in Belgien fehlt die Einheit der Nationalität völlig. Und
welche Musterkarte heterogener Volksarten stellt Oesterreich dar! Die Gemein¬
samkeit der Abstammung läßt sich durch Einheit des geistigen Lebens ersetze".
Je mehr allerdings die verschiedenen Stammeselemente in einem Staate in glei¬
chem Maße gemischt sind, desto schwerer wird es sein, sie zu einem organischen
Ganzen zu vereinen, je mehr dagegen die einer Nationalität angehörige Be¬
völkerung überwiegt, desto leichter wird ein solches sich bilden können. Aber
ist es zulässig, wider ihren Willen Bestandtheile eines Volksganzen von dem¬
selben abzulösen, und einer anderen staatlichen Gemeinschaft zuzutheilen?
Um diese Frage zu beantworten, giebt er ihr zuerst eine bestimmtere Fassung.
Es handelt sich genau genommen, nicht um die Bewohner eines Landes, son¬
dern um dieses selbst oder um noch schärfer das Objekt zu bezeichnen, um die
Landeshoheit, die Territorialgewalt. Ob diese vou dem bisherigen Inhaber
derselben, auch wider den Willen der ihr bis dahin unterstellten Bevölkerung,
einem andern Staat übertragen werden darf, das ist die Frage. Denn den
einzelnen Bewohnern des Landes steht es ja frei, dasselbe zu verlassen. In
dieser Fassung der Frage ist aber auch die Antwort unmittelbar gegeben. Die
Rechte, um deren Uebertragung es sich hier handelt, liegen nicht in der Hand


fertige Verletzung des positiven Gesetzes nie gerechtfertigt werden kann; daß
es unter Umständen sogar rathsam ist, lieber ungesunde Zustände zu tragen,
als durch ihre gewaltsame Beseitigung eine Erschütterung im Volksbewußtsein
herbeizuführen, deren Tragweite nicht zu beimessen ist, darf einem gewissen¬
haften Staatsmanne nicht zweifelhaft fein. Aber feststehen muß der Grundsatz:
das positive Recht darf nicht eine Heiligkeit in Anspruch nehmen, das nur dem
natürlichen Recht zukommt.

Die Polemik gegen die Gegner der Annexion Elsaß-Lothringens und das
Bedürfniß, das innere Recht derselben zu erweisen, hat den zweiten politischen
Aufsatz: „Das Recht der Nationalität und die freie Selbstbestimmung der Völ¬
ker" veranlaßt. Derselbe war vor dem Friedensschluß geschrieben und die
Erregung der deutschen Nation, die bange Sorge, daß auch diesmal ihr der
Lohn des Sieges genommen werden könne, ist in ihm deutlich spürbar. Es
ist der frischeste und wärmste Aufsatz der Sammlung, die Lebendigkeit des
patriotischen Bewußtseins klingt überall dnrch. Es sind zwei Fragen, um
deren Beantwortung es sich handelt. Ist es erlaubt, Bestandtheile fremder
Nationalitüteu in den Staatsverbnnd aufzunehmen, lautet die erste. Zeller
erledigt sie, indem er Einheit der Sprache und Abstammung allerdings als
eine wesentliche Bedingung, aber nicht als die alleinige, für die gesunde Ent¬
wickelung des Staatslebens bezeichnet. Giebt es doch kaum einen größeren
Staat, der nicht eine Minorität stammesfremder Elemente in sich schließt.
In der Schweiz und in Belgien fehlt die Einheit der Nationalität völlig. Und
welche Musterkarte heterogener Volksarten stellt Oesterreich dar! Die Gemein¬
samkeit der Abstammung läßt sich durch Einheit des geistigen Lebens ersetze».
Je mehr allerdings die verschiedenen Stammeselemente in einem Staate in glei¬
chem Maße gemischt sind, desto schwerer wird es sein, sie zu einem organischen
Ganzen zu vereinen, je mehr dagegen die einer Nationalität angehörige Be¬
völkerung überwiegt, desto leichter wird ein solches sich bilden können. Aber
ist es zulässig, wider ihren Willen Bestandtheile eines Volksganzen von dem¬
selben abzulösen, und einer anderen staatlichen Gemeinschaft zuzutheilen?
Um diese Frage zu beantworten, giebt er ihr zuerst eine bestimmtere Fassung.
Es handelt sich genau genommen, nicht um die Bewohner eines Landes, son¬
dern um dieses selbst oder um noch schärfer das Objekt zu bezeichnen, um die
Landeshoheit, die Territorialgewalt. Ob diese vou dem bisherigen Inhaber
derselben, auch wider den Willen der ihr bis dahin unterstellten Bevölkerung,
einem andern Staat übertragen werden darf, das ist die Frage. Denn den
einzelnen Bewohnern des Landes steht es ja frei, dasselbe zu verlassen. In
dieser Fassung der Frage ist aber auch die Antwort unmittelbar gegeben. Die
Rechte, um deren Uebertragung es sich hier handelt, liegen nicht in der Hand


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/220>, abgerufen am 20.10.2024.