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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Reiche stellt gleichsam den Ausgleich dar, der zwischen zwei heterogenen Ele¬
menten angebahnt werden sollte, und in dein sich der ganze Scharfsinn eines
Realpolitikers wie Bismarck es ist, erwies.

Denn man muß wohl bedenken, daß Baiern eben vor tausend Jahren
schon einer der mächtigsten Stämme des alten Reiches war, daß seine Dynastie
siebenhundert Jahre zählt, daß das Laud eine selbständige Geschichte sein eigen
nennt, die weit über die Karolinger hinausgeht. Wo solche Thatsachen ge¬
geben sind, da ist es doch wohl etwas mehr als bloße Laune, wenn ein Volk
von seinen berechtigten Eigenthümlichkeiten spricht, zumal ein Volk, dessen
Charakteranlage so sehr von den übrigen deutschen Stämmen abweicht, das
seit der Reformation in einer systematischen Abgeschlossenheit, in einem völligen
"Bildungspartikularismus" herangewachsen ist, wie Riehl dies so treffend nennt.

Mit solchen Thatsachen mußte ein einsichtsvoller Politiker rechnen und
es war unermeßlich klüger, ihnen in normaler Entwicklung entgegenzuwirken
und der gegenseitigen Annäherung Raum und Zeit zu gönnen, als die volle
Gleichartigkeit zu diktiren, zu fingiren, wo sie nicht besteht. So wie die
Rechtsverhältnisse Baiern's zum Reiche dermalen liegen, wird das Streben
der Besten daraus gerichtet sein, diesen Zusammenhang zu stärken und die
Gegensätze zu mildern, während man bei jedem mehr unitarischen Verfahren
die Gegensätze nur prvvozirt hätte, um einen überstraffen Zusammenhang zu
lockern. Jetzt ist die Annäherung Baierns an die deutsche Gesammtheit, an
das Reich, zwar nur eine allmälige, aber eine gesunde, organisch wachsende;
im anderen Fall wäre sie eine vollständigere, aber eine forcirte, innerlich un¬
wahre gewesen. Es gibt ja soviele Dinge auf der Welt, die man nicht machen
kann, sondern die nur werden können, und dazu gehört die geistige Ver¬
ständigung, das innerliche Einigwerden einer Nation, die das Schwert
äußerlich vereinte.

Wir haben diese Umstände so ausführlich besprochen, weil sie die einzige
Basis bilden, von der aus die politische Stellung Baierns richtig beurtheilt
werden kann. Man muß sich das Maß politischer Erziehung, muß sich die
Traditionen als die Eigenart eines Stammes gegenwärtig halten, womit der¬
selbe in die größere nationale Gemeinschaft eintrat: nur dann wird man gerecht
ermessen können, was er derselben leistet und was er ihr schuldig bleibt.
Leider aber wird dies nnr allzuoft übersehen; man vergißt, daß die Baiern
anch im Reiche noch eben Baiern sind und nicht von heute auf morgen nach
preußischen Traditionen beurtheilt werde" dürfen. Das legen wir allen denen
recht warm und dringend ein's Herz, die sich um die Geschicke des schönen
süddeutschen Landes bekümmern; daß wir selber deswegen nicht zu optimistisch
urtheilen über bajuvarische Eigenthümlichkeiten, wird jeder denkende Leser er-


Reiche stellt gleichsam den Ausgleich dar, der zwischen zwei heterogenen Ele¬
menten angebahnt werden sollte, und in dein sich der ganze Scharfsinn eines
Realpolitikers wie Bismarck es ist, erwies.

Denn man muß wohl bedenken, daß Baiern eben vor tausend Jahren
schon einer der mächtigsten Stämme des alten Reiches war, daß seine Dynastie
siebenhundert Jahre zählt, daß das Laud eine selbständige Geschichte sein eigen
nennt, die weit über die Karolinger hinausgeht. Wo solche Thatsachen ge¬
geben sind, da ist es doch wohl etwas mehr als bloße Laune, wenn ein Volk
von seinen berechtigten Eigenthümlichkeiten spricht, zumal ein Volk, dessen
Charakteranlage so sehr von den übrigen deutschen Stämmen abweicht, das
seit der Reformation in einer systematischen Abgeschlossenheit, in einem völligen
„Bildungspartikularismus" herangewachsen ist, wie Riehl dies so treffend nennt.

Mit solchen Thatsachen mußte ein einsichtsvoller Politiker rechnen und
es war unermeßlich klüger, ihnen in normaler Entwicklung entgegenzuwirken
und der gegenseitigen Annäherung Raum und Zeit zu gönnen, als die volle
Gleichartigkeit zu diktiren, zu fingiren, wo sie nicht besteht. So wie die
Rechtsverhältnisse Baiern's zum Reiche dermalen liegen, wird das Streben
der Besten daraus gerichtet sein, diesen Zusammenhang zu stärken und die
Gegensätze zu mildern, während man bei jedem mehr unitarischen Verfahren
die Gegensätze nur prvvozirt hätte, um einen überstraffen Zusammenhang zu
lockern. Jetzt ist die Annäherung Baierns an die deutsche Gesammtheit, an
das Reich, zwar nur eine allmälige, aber eine gesunde, organisch wachsende;
im anderen Fall wäre sie eine vollständigere, aber eine forcirte, innerlich un¬
wahre gewesen. Es gibt ja soviele Dinge auf der Welt, die man nicht machen
kann, sondern die nur werden können, und dazu gehört die geistige Ver¬
ständigung, das innerliche Einigwerden einer Nation, die das Schwert
äußerlich vereinte.

Wir haben diese Umstände so ausführlich besprochen, weil sie die einzige
Basis bilden, von der aus die politische Stellung Baierns richtig beurtheilt
werden kann. Man muß sich das Maß politischer Erziehung, muß sich die
Traditionen als die Eigenart eines Stammes gegenwärtig halten, womit der¬
selbe in die größere nationale Gemeinschaft eintrat: nur dann wird man gerecht
ermessen können, was er derselben leistet und was er ihr schuldig bleibt.
Leider aber wird dies nnr allzuoft übersehen; man vergißt, daß die Baiern
anch im Reiche noch eben Baiern sind und nicht von heute auf morgen nach
preußischen Traditionen beurtheilt werde« dürfen. Das legen wir allen denen
recht warm und dringend ein's Herz, die sich um die Geschicke des schönen
süddeutschen Landes bekümmern; daß wir selber deswegen nicht zu optimistisch
urtheilen über bajuvarische Eigenthümlichkeiten, wird jeder denkende Leser er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/200>, abgerufen am 27.09.2024.