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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Regelung der Produktion, mit anderen Worten das Programm der deutschen
Sozialdemokratie nennt. Kurzum, er erklärt, daß der Verein für Sozialpoli¬
tik, statt Fühlung mit dem volkswirthschaftlichen Kongresse zu suchen, vielmehr
nach links hin an den radikalen Sozialismus hätte aufschließen müssen, um
seinen Charakter zu bewahren und seine Zukunft zu retten.

Auf diese leidenschaftliche" Anklagen antwortet Professor Held bündig und
gemessen. Er verwirft selbstverständlich nicht die wissenschaftliche Diskussion
der theoretischen Prinzipien und Probleme, aber er verweist sie dahin, wohin
sie gehören, in das einsame Zimmer des Gelehrten. "Wenn irgend eine Art
von Arbeit, so bedarf die rein wissenschaftliche der individuellen Thätigkeit und
sie gedeiht schlecht in gesellschaftlicher Korporation. Debatten setzen Abstimmungen
voraus, Abstimmungen über ein wissenschaftliches Problem sind ein Unsinn."
Für die praktische Sozialpolitik aber, für die Aufgabe des Vereins, "in
wissenschaftlicher Weise Zielpunkte sür die Gesetzgebung zu geben", kommt es
nicht auf das Stecken ferner Ziele, sondern auf das Suchen sicherer Wege,
kommt es darauf an, in geschlossener Reihe nächste erreichbare Ziele anzustreben.
Das Kompromiß mit dem volkswirtschaftlichen Kongresse ist ein gesundes,
denn um sich auf gemeinsamem Boden zu finden, mußten beide Theile sich in
ehrlicher Selbstkritik von Einseitigkeiten und Ueberschwenglichkeiten befreien; so
weit noch Gegensätze vorhanden sind, messen sie ihre innere Kraft besser in
friedlicher Diskussion, als in ewiger Fehde. Diese schlüssige Abwehr ergänzt
Held sachlich durch eine feste und klare Stellungnahme zur Sozialdemokratie;
durch seine eingehende Kritik Nieardv's, jenes englischen Oekonomen, von
welchen? Lassalle und Marx ihre Hauptsätze ableiten, füllt er eine fühlbare
Lücke in der einschlägigen Literatur aus. Nur in zwei Punkten dürfte seine
Auffassung erheblichen Bedenken unterliegen. Zunächst opfert er den Begriff,
aber er will nicht von dem Worte "Sozialismus" lassen. Er unterscheidet
fundamental zwischen Sozialismus und Sozialdemokratie. Sozialismus ist
ihm "jede Richtung, welche irgend welche Unterordnung des Einzelnwillens unter
die Gesammtheit verlangt." Er schreibt etwas phrasenhaft und unklar:
"Individualismus d. h. Freiheit, Sozialismus d. h, Ordnung, sind zwei ewig
gleich berechtigte Prinzipien, von denen nie das eine das andere völlig aus¬
schließen kann, sondern die nur zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Maße
neben einander bestehen können." Diese Ethnologie ist bestenfalls eine persön¬
liche Liebhaberei, welche gerade bei einem praktischen Politiker befremden muß,
deun sie würde konsequent durchgeführt eine heillose Konfusion in der öffentlichen
Debatte hervorrufen. Es ist ja vollkommen richtig, daß sich in das allgemeine
und vieldeutige Wort mancherlei hineinlegen läßt, allein der Sprachgebrauch
hat nun einmal seit einem Jahrzehnt entschieden, und er läßt sich nicht ohne


Grenzboten I. 1378. 23

Regelung der Produktion, mit anderen Worten das Programm der deutschen
Sozialdemokratie nennt. Kurzum, er erklärt, daß der Verein für Sozialpoli¬
tik, statt Fühlung mit dem volkswirthschaftlichen Kongresse zu suchen, vielmehr
nach links hin an den radikalen Sozialismus hätte aufschließen müssen, um
seinen Charakter zu bewahren und seine Zukunft zu retten.

Auf diese leidenschaftliche» Anklagen antwortet Professor Held bündig und
gemessen. Er verwirft selbstverständlich nicht die wissenschaftliche Diskussion
der theoretischen Prinzipien und Probleme, aber er verweist sie dahin, wohin
sie gehören, in das einsame Zimmer des Gelehrten. „Wenn irgend eine Art
von Arbeit, so bedarf die rein wissenschaftliche der individuellen Thätigkeit und
sie gedeiht schlecht in gesellschaftlicher Korporation. Debatten setzen Abstimmungen
voraus, Abstimmungen über ein wissenschaftliches Problem sind ein Unsinn."
Für die praktische Sozialpolitik aber, für die Aufgabe des Vereins, „in
wissenschaftlicher Weise Zielpunkte sür die Gesetzgebung zu geben", kommt es
nicht auf das Stecken ferner Ziele, sondern auf das Suchen sicherer Wege,
kommt es darauf an, in geschlossener Reihe nächste erreichbare Ziele anzustreben.
Das Kompromiß mit dem volkswirtschaftlichen Kongresse ist ein gesundes,
denn um sich auf gemeinsamem Boden zu finden, mußten beide Theile sich in
ehrlicher Selbstkritik von Einseitigkeiten und Ueberschwenglichkeiten befreien; so
weit noch Gegensätze vorhanden sind, messen sie ihre innere Kraft besser in
friedlicher Diskussion, als in ewiger Fehde. Diese schlüssige Abwehr ergänzt
Held sachlich durch eine feste und klare Stellungnahme zur Sozialdemokratie;
durch seine eingehende Kritik Nieardv's, jenes englischen Oekonomen, von
welchen? Lassalle und Marx ihre Hauptsätze ableiten, füllt er eine fühlbare
Lücke in der einschlägigen Literatur aus. Nur in zwei Punkten dürfte seine
Auffassung erheblichen Bedenken unterliegen. Zunächst opfert er den Begriff,
aber er will nicht von dem Worte „Sozialismus" lassen. Er unterscheidet
fundamental zwischen Sozialismus und Sozialdemokratie. Sozialismus ist
ihm „jede Richtung, welche irgend welche Unterordnung des Einzelnwillens unter
die Gesammtheit verlangt." Er schreibt etwas phrasenhaft und unklar:
„Individualismus d. h. Freiheit, Sozialismus d. h, Ordnung, sind zwei ewig
gleich berechtigte Prinzipien, von denen nie das eine das andere völlig aus¬
schließen kann, sondern die nur zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Maße
neben einander bestehen können." Diese Ethnologie ist bestenfalls eine persön¬
liche Liebhaberei, welche gerade bei einem praktischen Politiker befremden muß,
deun sie würde konsequent durchgeführt eine heillose Konfusion in der öffentlichen
Debatte hervorrufen. Es ist ja vollkommen richtig, daß sich in das allgemeine
und vieldeutige Wort mancherlei hineinlegen läßt, allein der Sprachgebrauch
hat nun einmal seit einem Jahrzehnt entschieden, und er läßt sich nicht ohne


Grenzboten I. 1378. 23
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[0185] Regelung der Produktion, mit anderen Worten das Programm der deutschen Sozialdemokratie nennt. Kurzum, er erklärt, daß der Verein für Sozialpoli¬ tik, statt Fühlung mit dem volkswirthschaftlichen Kongresse zu suchen, vielmehr nach links hin an den radikalen Sozialismus hätte aufschließen müssen, um seinen Charakter zu bewahren und seine Zukunft zu retten. Auf diese leidenschaftliche» Anklagen antwortet Professor Held bündig und gemessen. Er verwirft selbstverständlich nicht die wissenschaftliche Diskussion der theoretischen Prinzipien und Probleme, aber er verweist sie dahin, wohin sie gehören, in das einsame Zimmer des Gelehrten. „Wenn irgend eine Art von Arbeit, so bedarf die rein wissenschaftliche der individuellen Thätigkeit und sie gedeiht schlecht in gesellschaftlicher Korporation. Debatten setzen Abstimmungen voraus, Abstimmungen über ein wissenschaftliches Problem sind ein Unsinn." Für die praktische Sozialpolitik aber, für die Aufgabe des Vereins, „in wissenschaftlicher Weise Zielpunkte sür die Gesetzgebung zu geben", kommt es nicht auf das Stecken ferner Ziele, sondern auf das Suchen sicherer Wege, kommt es darauf an, in geschlossener Reihe nächste erreichbare Ziele anzustreben. Das Kompromiß mit dem volkswirtschaftlichen Kongresse ist ein gesundes, denn um sich auf gemeinsamem Boden zu finden, mußten beide Theile sich in ehrlicher Selbstkritik von Einseitigkeiten und Ueberschwenglichkeiten befreien; so weit noch Gegensätze vorhanden sind, messen sie ihre innere Kraft besser in friedlicher Diskussion, als in ewiger Fehde. Diese schlüssige Abwehr ergänzt Held sachlich durch eine feste und klare Stellungnahme zur Sozialdemokratie; durch seine eingehende Kritik Nieardv's, jenes englischen Oekonomen, von welchen? Lassalle und Marx ihre Hauptsätze ableiten, füllt er eine fühlbare Lücke in der einschlägigen Literatur aus. Nur in zwei Punkten dürfte seine Auffassung erheblichen Bedenken unterliegen. Zunächst opfert er den Begriff, aber er will nicht von dem Worte „Sozialismus" lassen. Er unterscheidet fundamental zwischen Sozialismus und Sozialdemokratie. Sozialismus ist ihm „jede Richtung, welche irgend welche Unterordnung des Einzelnwillens unter die Gesammtheit verlangt." Er schreibt etwas phrasenhaft und unklar: „Individualismus d. h. Freiheit, Sozialismus d. h, Ordnung, sind zwei ewig gleich berechtigte Prinzipien, von denen nie das eine das andere völlig aus¬ schließen kann, sondern die nur zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Maße neben einander bestehen können." Diese Ethnologie ist bestenfalls eine persön¬ liche Liebhaberei, welche gerade bei einem praktischen Politiker befremden muß, deun sie würde konsequent durchgeführt eine heillose Konfusion in der öffentlichen Debatte hervorrufen. Es ist ja vollkommen richtig, daß sich in das allgemeine und vieldeutige Wort mancherlei hineinlegen läßt, allein der Sprachgebrauch hat nun einmal seit einem Jahrzehnt entschieden, und er läßt sich nicht ohne Grenzboten I. 1378. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/185>, abgerufen am 20.10.2024.