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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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eilen und von einer Serie Bücher zur anderen überzugehen führen unausbleiblich zum
Ueberarbeitetsein oder zur jämmerlichsten Oberflächlichkeit, zur Achtlosigkeit und
Ideenverwirrung, zur Schwächung und Verschwendung des Geistes der Zöglinge."

Das über die Unterrichtsmethode, die Lehrbücher und die vorherrschenden
Materien in der amerikanischen Schule Bemerkte läßt sich kurz dahin zusammen¬
fassen: der Unterricht, vielfach auf Abstraktes, auf vornehm klingende, von den
Schülern unverstandene Definitionen gerichtet und zum größten Theile durch
Bücher vermittelt, wird ganz und gar als Gedächtnißsache behandelt, entbehrt
der erziehenden Kraft und haftet nicht. Das Wesen desselben ist vorwiegend
realer Natur, humane Bildung erscheint entschieden vernachlässigt. In dem
Dvppelziele, das ihm an sich gesteckt ist, und das in mechanischer Aufnahme
einer bestimmten Menge von Wissen und in der Heranbildung zu Staatsbür¬
gern (Befähigung zur Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte durch Leseu-
uud Schreibenkönnen sowie Kenntniß der Verfassung) besteht, scheint die Aufgabe des
Unterrichts, soweit es sich um die Volksschulen handelt, sich vollständig zu er-,
schöpfen. Selbst die Hochschulen im eigentlichen Sinne, die Colleges und Uni¬
versitäten also, tragen mehr den Charakter von Spezialschulen. Selten studirt
jemand um der Wissenschaft willen. Weit entfernt davon, wie bei uns, Brenn¬
punkte des wissenschaftlichen Lebens zu bilden und Stätten zu sein, wo Ge¬
lehrte durch Mittheilung der Ergebnisse ihrer Forschungen den Gemüthern der
Jugend Begeisterung und ernstes Streben nach der Wahrheit einflößen, sind
die amerikanischen Schulen des genannten Grades mit wenigen und wenig
besseren Ausnahmen einseitig, nüchtern und praktisch im Sinne möglichst rascher
Ablichtung für einen Beruf, für ein Amt, fürs Geldverdienen.

"Nach dem einstimmigen Urtheile einer großen Zahl von Männern", sagt
der Verfasser unserer Schrift, "welche mir wegen der Studien, die sie in
Europa gemacht, berufen erscheinen, ein maßgebendes Votum abzugeben, ist die
amerikanische Universität mit unserer Hochschule uicht zu vergleichen, und in
Folge dessen ist Amerika -- mag sich das Selbstgefühl des Amerikaners noch
so sehr dagegen sträuben -- in Bezug auf wissenschaftliche Ausbildung Europa
tributär. Die akademischen Grade sind dem Namen nach den europäischen
gleich, allein ihrem Inhalt, ihrer Bedeutung, ihren Voraussetzungen nach weichen
sie sehr erheblich von jenen ab, d. h. man erwirbt sie sich mit weit weniger
Mühe. Ein Lkcuölor cet ^res, der sich seinen Grad im Harvard College, der
vornehmsten Universität der Vereinigten Staaten, erworben, wird nur in äußerst
seltenen Fällen so durchgebildet sein, daß er sich mit Doktoren der Philosophie,
die auf einer deutschen Hochschule ihr Examen bestanden und promovirt haben,
auch nur annähernd messen könnte.

Die Zeit, welche das Studium der Medizin erfordert, beträgt in Deutsch-


eilen und von einer Serie Bücher zur anderen überzugehen führen unausbleiblich zum
Ueberarbeitetsein oder zur jämmerlichsten Oberflächlichkeit, zur Achtlosigkeit und
Ideenverwirrung, zur Schwächung und Verschwendung des Geistes der Zöglinge."

Das über die Unterrichtsmethode, die Lehrbücher und die vorherrschenden
Materien in der amerikanischen Schule Bemerkte läßt sich kurz dahin zusammen¬
fassen: der Unterricht, vielfach auf Abstraktes, auf vornehm klingende, von den
Schülern unverstandene Definitionen gerichtet und zum größten Theile durch
Bücher vermittelt, wird ganz und gar als Gedächtnißsache behandelt, entbehrt
der erziehenden Kraft und haftet nicht. Das Wesen desselben ist vorwiegend
realer Natur, humane Bildung erscheint entschieden vernachlässigt. In dem
Dvppelziele, das ihm an sich gesteckt ist, und das in mechanischer Aufnahme
einer bestimmten Menge von Wissen und in der Heranbildung zu Staatsbür¬
gern (Befähigung zur Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte durch Leseu-
uud Schreibenkönnen sowie Kenntniß der Verfassung) besteht, scheint die Aufgabe des
Unterrichts, soweit es sich um die Volksschulen handelt, sich vollständig zu er-,
schöpfen. Selbst die Hochschulen im eigentlichen Sinne, die Colleges und Uni¬
versitäten also, tragen mehr den Charakter von Spezialschulen. Selten studirt
jemand um der Wissenschaft willen. Weit entfernt davon, wie bei uns, Brenn¬
punkte des wissenschaftlichen Lebens zu bilden und Stätten zu sein, wo Ge¬
lehrte durch Mittheilung der Ergebnisse ihrer Forschungen den Gemüthern der
Jugend Begeisterung und ernstes Streben nach der Wahrheit einflößen, sind
die amerikanischen Schulen des genannten Grades mit wenigen und wenig
besseren Ausnahmen einseitig, nüchtern und praktisch im Sinne möglichst rascher
Ablichtung für einen Beruf, für ein Amt, fürs Geldverdienen.

„Nach dem einstimmigen Urtheile einer großen Zahl von Männern", sagt
der Verfasser unserer Schrift, „welche mir wegen der Studien, die sie in
Europa gemacht, berufen erscheinen, ein maßgebendes Votum abzugeben, ist die
amerikanische Universität mit unserer Hochschule uicht zu vergleichen, und in
Folge dessen ist Amerika — mag sich das Selbstgefühl des Amerikaners noch
so sehr dagegen sträuben — in Bezug auf wissenschaftliche Ausbildung Europa
tributär. Die akademischen Grade sind dem Namen nach den europäischen
gleich, allein ihrem Inhalt, ihrer Bedeutung, ihren Voraussetzungen nach weichen
sie sehr erheblich von jenen ab, d. h. man erwirbt sie sich mit weit weniger
Mühe. Ein Lkcuölor cet ^res, der sich seinen Grad im Harvard College, der
vornehmsten Universität der Vereinigten Staaten, erworben, wird nur in äußerst
seltenen Fällen so durchgebildet sein, daß er sich mit Doktoren der Philosophie,
die auf einer deutschen Hochschule ihr Examen bestanden und promovirt haben,
auch nur annähernd messen könnte.

Die Zeit, welche das Studium der Medizin erfordert, beträgt in Deutsch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/512>, abgerufen am 21.10.2024.