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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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anmuthig. Und dasselbe Bedenken könnte jedes Wagniß des Touristen hin¬
dern. Dagegen bietet das Madercmerthal eine Fülle und Mannigfaltigkeit von
Reizen, wie kaum ein zweites der Schweiz.

Es gehört aber trotzdem und trotz des Sterns, den es sich bei Bädeker
schon errungen, immer noch zu den Thälern, die abseits der großen Heerstraße liegen
ein großer Vorzug für diejenigen Reisenden, namentlich Frauen, die frei
Kor Modethorheiten die reine Natur genießen wollen. Selten wird man an
Pensionären, Touristen n. s. w., Alles in Allem gerechnet, mehr als fünfzig
bis sechzig Personen im Alpenklubhotel hinten im Madercmerthal, dem einzigen
des Thales treffen, eine Menschenansammlung, die verschwindend klein ist gegen
die Massen, die jeder nennenswerthe Ort am Vierwaldstättersee oder im Berner
Oberland im Sommer aufweist, eine Zahl, von der man zudem nur bei den
Mahlzeiten eine bestimmte Ahnung bekommt. Sonst spürt man in der weiten
Gottesnatur nichts von ihnen.

Der Grund dieses verhältnißmäßig geringen Besuchs liegt wohl haupt¬
sächlich in der noch sehr mangelhaften Verkehrsverbindnng des Thals. Zunächst
hat man von Flüelen bis Amsteg viertehalb Stunden, so gut es geht, zu¬
rückzulegen. Im Sommer ist das Fuhrwerk oft rar genug. Als wir vor
Zwei Jahren von dem Hochpaß der Surenen niederstiegen und nach furchtbarem
Gewitter in der Klus, halbwegs zwischen Flüelen und Amsteg, Unterkommen
sanden, war unsere erste Sorge, uns für den nächsten Frühmorgen ein Fuhr¬
werk nach Amsteg zu sichern. Das einzige Miethroß des Ortes, ein Schimmel
er steht noch vor meinem Auge -- wurde uns gedungen und mit Eiden
uns angelobt. Aber im Rathe der Götter war es anders über den Schimmel
beschlossen. Er sollte bei der Weltgeschichte angestellt werden. Dieselbe Nacht
ging nämlich der Stier von Uri durchs Land und entbot den Mannen bis
hoch hinauf an die Grenze des ewigen Schnee's den Heerruf: In Göschenen
Gotthardtuunel habe der Arbeiter revoluzt, sodaß Uri mobil machen müsse,
um den Aufstand zu dämpfen. Und die Wirthin der Klus tobte durch das
Haus mit dem Schreckensruf: "Revolution!" und ließ die Milch überlaufen.
Leider waren unsere Kleider sämmtlich zum Trocknen gegeben, und unsere
Fenster gingen nicht auf die Heerstraße. Aber mit zwei aufgespannten Regen¬
schirmen krinolinenartig bekleidet, wagte sich doch endlich Einer -- nomina.
^unt ocliosg. -- an ein Straßenfenster und erblickte -- o Schauder -- unsern
^uizigen Schimmel vor den Schlachtwagen der Urner gespannt. Der Schlacht¬
wagen konnte fast als gewöhnlicher Leiterwagen erscheinen, aber er und der
Schimmel waren verklärt durch ihre historische Bedeutung, die der Schimmel
"lit dem Bruche der heiligsten auf ihn gebauten Gelübde erkauft hatte. Und
ringsum fluchte die Mmmschast, die sich anschickte in den heiligen Krieg zu


Grenzboten III. 1877. 69

anmuthig. Und dasselbe Bedenken könnte jedes Wagniß des Touristen hin¬
dern. Dagegen bietet das Madercmerthal eine Fülle und Mannigfaltigkeit von
Reizen, wie kaum ein zweites der Schweiz.

Es gehört aber trotzdem und trotz des Sterns, den es sich bei Bädeker
schon errungen, immer noch zu den Thälern, die abseits der großen Heerstraße liegen
ein großer Vorzug für diejenigen Reisenden, namentlich Frauen, die frei
Kor Modethorheiten die reine Natur genießen wollen. Selten wird man an
Pensionären, Touristen n. s. w., Alles in Allem gerechnet, mehr als fünfzig
bis sechzig Personen im Alpenklubhotel hinten im Madercmerthal, dem einzigen
des Thales treffen, eine Menschenansammlung, die verschwindend klein ist gegen
die Massen, die jeder nennenswerthe Ort am Vierwaldstättersee oder im Berner
Oberland im Sommer aufweist, eine Zahl, von der man zudem nur bei den
Mahlzeiten eine bestimmte Ahnung bekommt. Sonst spürt man in der weiten
Gottesnatur nichts von ihnen.

Der Grund dieses verhältnißmäßig geringen Besuchs liegt wohl haupt¬
sächlich in der noch sehr mangelhaften Verkehrsverbindnng des Thals. Zunächst
hat man von Flüelen bis Amsteg viertehalb Stunden, so gut es geht, zu¬
rückzulegen. Im Sommer ist das Fuhrwerk oft rar genug. Als wir vor
Zwei Jahren von dem Hochpaß der Surenen niederstiegen und nach furchtbarem
Gewitter in der Klus, halbwegs zwischen Flüelen und Amsteg, Unterkommen
sanden, war unsere erste Sorge, uns für den nächsten Frühmorgen ein Fuhr¬
werk nach Amsteg zu sichern. Das einzige Miethroß des Ortes, ein Schimmel
er steht noch vor meinem Auge — wurde uns gedungen und mit Eiden
uns angelobt. Aber im Rathe der Götter war es anders über den Schimmel
beschlossen. Er sollte bei der Weltgeschichte angestellt werden. Dieselbe Nacht
ging nämlich der Stier von Uri durchs Land und entbot den Mannen bis
hoch hinauf an die Grenze des ewigen Schnee's den Heerruf: In Göschenen
Gotthardtuunel habe der Arbeiter revoluzt, sodaß Uri mobil machen müsse,
um den Aufstand zu dämpfen. Und die Wirthin der Klus tobte durch das
Haus mit dem Schreckensruf: „Revolution!" und ließ die Milch überlaufen.
Leider waren unsere Kleider sämmtlich zum Trocknen gegeben, und unsere
Fenster gingen nicht auf die Heerstraße. Aber mit zwei aufgespannten Regen¬
schirmen krinolinenartig bekleidet, wagte sich doch endlich Einer — nomina.
^unt ocliosg. — an ein Straßenfenster und erblickte — o Schauder — unsern
^uizigen Schimmel vor den Schlachtwagen der Urner gespannt. Der Schlacht¬
wagen konnte fast als gewöhnlicher Leiterwagen erscheinen, aber er und der
Schimmel waren verklärt durch ihre historische Bedeutung, die der Schimmel
"lit dem Bruche der heiligsten auf ihn gebauten Gelübde erkauft hatte. Und
ringsum fluchte die Mmmschast, die sich anschickte in den heiligen Krieg zu


Grenzboten III. 1877. 69
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[0473] anmuthig. Und dasselbe Bedenken könnte jedes Wagniß des Touristen hin¬ dern. Dagegen bietet das Madercmerthal eine Fülle und Mannigfaltigkeit von Reizen, wie kaum ein zweites der Schweiz. Es gehört aber trotzdem und trotz des Sterns, den es sich bei Bädeker schon errungen, immer noch zu den Thälern, die abseits der großen Heerstraße liegen ein großer Vorzug für diejenigen Reisenden, namentlich Frauen, die frei Kor Modethorheiten die reine Natur genießen wollen. Selten wird man an Pensionären, Touristen n. s. w., Alles in Allem gerechnet, mehr als fünfzig bis sechzig Personen im Alpenklubhotel hinten im Madercmerthal, dem einzigen des Thales treffen, eine Menschenansammlung, die verschwindend klein ist gegen die Massen, die jeder nennenswerthe Ort am Vierwaldstättersee oder im Berner Oberland im Sommer aufweist, eine Zahl, von der man zudem nur bei den Mahlzeiten eine bestimmte Ahnung bekommt. Sonst spürt man in der weiten Gottesnatur nichts von ihnen. Der Grund dieses verhältnißmäßig geringen Besuchs liegt wohl haupt¬ sächlich in der noch sehr mangelhaften Verkehrsverbindnng des Thals. Zunächst hat man von Flüelen bis Amsteg viertehalb Stunden, so gut es geht, zu¬ rückzulegen. Im Sommer ist das Fuhrwerk oft rar genug. Als wir vor Zwei Jahren von dem Hochpaß der Surenen niederstiegen und nach furchtbarem Gewitter in der Klus, halbwegs zwischen Flüelen und Amsteg, Unterkommen sanden, war unsere erste Sorge, uns für den nächsten Frühmorgen ein Fuhr¬ werk nach Amsteg zu sichern. Das einzige Miethroß des Ortes, ein Schimmel er steht noch vor meinem Auge — wurde uns gedungen und mit Eiden uns angelobt. Aber im Rathe der Götter war es anders über den Schimmel beschlossen. Er sollte bei der Weltgeschichte angestellt werden. Dieselbe Nacht ging nämlich der Stier von Uri durchs Land und entbot den Mannen bis hoch hinauf an die Grenze des ewigen Schnee's den Heerruf: In Göschenen Gotthardtuunel habe der Arbeiter revoluzt, sodaß Uri mobil machen müsse, um den Aufstand zu dämpfen. Und die Wirthin der Klus tobte durch das Haus mit dem Schreckensruf: „Revolution!" und ließ die Milch überlaufen. Leider waren unsere Kleider sämmtlich zum Trocknen gegeben, und unsere Fenster gingen nicht auf die Heerstraße. Aber mit zwei aufgespannten Regen¬ schirmen krinolinenartig bekleidet, wagte sich doch endlich Einer — nomina. ^unt ocliosg. — an ein Straßenfenster und erblickte — o Schauder — unsern ^uizigen Schimmel vor den Schlachtwagen der Urner gespannt. Der Schlacht¬ wagen konnte fast als gewöhnlicher Leiterwagen erscheinen, aber er und der Schimmel waren verklärt durch ihre historische Bedeutung, die der Schimmel "lit dem Bruche der heiligsten auf ihn gebauten Gelübde erkauft hatte. Und ringsum fluchte die Mmmschast, die sich anschickte in den heiligen Krieg zu Grenzboten III. 1877. 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/473>, abgerufen am 21.10.2024.