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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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unanslöjchlich, immer ein Segen sein." Und dieses Muster eines Regenten ist
derselbe Mann, über dessen dem Kloster und dein Lande schädliches Regiment
nack selbst in seinen Tagebüchern und in Briefen an vertraute Freunde uicht
aufhören kann zu klagen. In beiden Fällen wußte der Geschichtsschreiber sehr
wohl, wie sich die Sache in Wirklichkeit verhielt, er log mit Wissen und Willen.
Die Verantwortlichkeit dafür fällt allerdings weniger auf seine Person, als auf
das System, welchem er angehörte. Der ehrliche Carolus würde um eignen
Vortheils willen nie ein unwahres Wort geschrieben haben, und dasselbe
darf man von den meisten seiner Neresheimer Confratres sagen; sie waren per¬
sönlich gewissenhafte, achtbare Leute, die unter gewöhnlichen Umständen den
Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige, von Herzen verabscheuten. Allein
nach jener einen Seite hin war bei ihnen der Sinn für Wahrheit schon durch
die Erziehung systematisch erstickt worden. Der Glaube, daß die Kirche uicht
irren könne, dieser Glaube, in welchem sie erzogen waren und in welchem sie
sich gewöhnt hatten, ihr eignes und anderer Heil zu erblicken, steht nun einmal
nicht mit den Thatsachen im Einklang; und was nicht dazu stimmen wollte,
hatte man ihnen von Jugend auf so lange erklärt, gedreht und gemodelt, bis
es stimmte. So waren sie von Kindesbeinen an in der Kunst geübt worden,
durch spitzfindige Unterscheidungen und Deuteleien den Sinn eines Satzes zu
verändern, ohne den Buchstaben aufzugeben, in der Kunst zu lügen und doch
den Schein der Wahrheit zu behalten. Am Ende hatten die meisten wohl
kaum noch das Bewußtsein des Unrechts, wenn es zum vermeintlichen Besten
der Kirche war, daß sie die Wahrheit verdrehten. Der ?. Benedikt Maria
Werkmeister berührt einmal in einem Briefe an den Abt Michael -- vom
April 1789 -- mit ziemlich richtiger Erkenntniß, jedoch ohne dem Uebel auf
den Grund zu kommen, die Ursache, weßhalb keine Reform in den verrotteten
Zuständen des Klosterwesens zu Wege gebracht wurde: "Es mangelt den meisten
Klostergeistlichen, schreibt er, schon an Menschen- und Weltkenntniß, um richtig
einzusehen, ob und was für eine Verbesserung nöthig sei. Diejenigen, die
richtig urtheilen könnten, ziehen sich zurück und behalten ihr wahres Urtheil
in xetw, um nicht von der turda versteinigt zu werden." Die Thatsache ist
unverkennbar: gerade die besten und aufgeklärtesten unter den Klostergeistlichen
-- und dies gilt wohl vom Klerus überhaupt -- hielten mit ihrem Urtheil am
meisten zurück, getrauten sich am wenigsten für ihre Ueberzeugungen offen und
entschieden einzustehen. Nur darf man die Ursache nicht in der Feigheit suchen.
Warum hätten die gescheiteren zugleich immer die weniger muthigen sein
sollen? Aber ihre Thatkraft war vou vornherein gelähmt durch ein unheim¬
liches Gefühl der Unsicherheit. Gerade den aufgeklärtesten mußten immer wieder
Von neuem Zweifel ein der Nichtigkeit ihrer Lehre aufsteigen. Sie mochten


unanslöjchlich, immer ein Segen sein." Und dieses Muster eines Regenten ist
derselbe Mann, über dessen dem Kloster und dein Lande schädliches Regiment
nack selbst in seinen Tagebüchern und in Briefen an vertraute Freunde uicht
aufhören kann zu klagen. In beiden Fällen wußte der Geschichtsschreiber sehr
wohl, wie sich die Sache in Wirklichkeit verhielt, er log mit Wissen und Willen.
Die Verantwortlichkeit dafür fällt allerdings weniger auf seine Person, als auf
das System, welchem er angehörte. Der ehrliche Carolus würde um eignen
Vortheils willen nie ein unwahres Wort geschrieben haben, und dasselbe
darf man von den meisten seiner Neresheimer Confratres sagen; sie waren per¬
sönlich gewissenhafte, achtbare Leute, die unter gewöhnlichen Umständen den
Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige, von Herzen verabscheuten. Allein
nach jener einen Seite hin war bei ihnen der Sinn für Wahrheit schon durch
die Erziehung systematisch erstickt worden. Der Glaube, daß die Kirche uicht
irren könne, dieser Glaube, in welchem sie erzogen waren und in welchem sie
sich gewöhnt hatten, ihr eignes und anderer Heil zu erblicken, steht nun einmal
nicht mit den Thatsachen im Einklang; und was nicht dazu stimmen wollte,
hatte man ihnen von Jugend auf so lange erklärt, gedreht und gemodelt, bis
es stimmte. So waren sie von Kindesbeinen an in der Kunst geübt worden,
durch spitzfindige Unterscheidungen und Deuteleien den Sinn eines Satzes zu
verändern, ohne den Buchstaben aufzugeben, in der Kunst zu lügen und doch
den Schein der Wahrheit zu behalten. Am Ende hatten die meisten wohl
kaum noch das Bewußtsein des Unrechts, wenn es zum vermeintlichen Besten
der Kirche war, daß sie die Wahrheit verdrehten. Der ?. Benedikt Maria
Werkmeister berührt einmal in einem Briefe an den Abt Michael — vom
April 1789 — mit ziemlich richtiger Erkenntniß, jedoch ohne dem Uebel auf
den Grund zu kommen, die Ursache, weßhalb keine Reform in den verrotteten
Zuständen des Klosterwesens zu Wege gebracht wurde: „Es mangelt den meisten
Klostergeistlichen, schreibt er, schon an Menschen- und Weltkenntniß, um richtig
einzusehen, ob und was für eine Verbesserung nöthig sei. Diejenigen, die
richtig urtheilen könnten, ziehen sich zurück und behalten ihr wahres Urtheil
in xetw, um nicht von der turda versteinigt zu werden." Die Thatsache ist
unverkennbar: gerade die besten und aufgeklärtesten unter den Klostergeistlichen
— und dies gilt wohl vom Klerus überhaupt — hielten mit ihrem Urtheil am
meisten zurück, getrauten sich am wenigsten für ihre Ueberzeugungen offen und
entschieden einzustehen. Nur darf man die Ursache nicht in der Feigheit suchen.
Warum hätten die gescheiteren zugleich immer die weniger muthigen sein
sollen? Aber ihre Thatkraft war vou vornherein gelähmt durch ein unheim¬
liches Gefühl der Unsicherheit. Gerade den aufgeklärtesten mußten immer wieder
Von neuem Zweifel ein der Nichtigkeit ihrer Lehre aufsteigen. Sie mochten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/470>, abgerufen am 28.09.2024.