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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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-- ergoß sich der bernische Heerhaufen, des Weges unkundig, riickwärts nach
Makkers. Im Dunkel kam das Gros an. Die vorausjagenden Reiter halten
dnrch ihren wilden Galopp besser als jeder Schlachtbericht den Bewohnern des
Ortes die Niederlage und den Schrecken der Feinde verkündet. Als das Gros
der Fliehenden in Makkers anlangte, sperrte ein großer Heuwagen als Barrikade
den Dorfweg. Plötzlich gab es Feuer ringsum. In Haufen sank die Jugend
Beruf in ihr Blut. Nur der alte Berner Löwenmut!), der auf so vielen
Schlachtfeldern Enropas Lorbeern gepflückt hat und dem nicht am wenigsten
das Meisterwerk Thorwaldsens, der sterbende Löwe zu Luzern, gesetzt ist, er¬
zwang nnter so ungünstigen Verhältnissen dennoch den Durchpaß nach der Heimat.

Wie rasch hat die Schweiz die Wunden verschmerzt, die der Sonderbunds¬
krieg ihr geschlagen, wie rasch des blutigen Streites vergessen! Schon 1848,
inmitten der Unruhen des ganzen Kontinentes, reichten sich die feindlichen
Brüder die Hand zum Bunde der Eidgenossenschaft, auf Grundlage einer Ver¬
fassung, die uns Deutschen so lange als Ideal vorschwebte, bis wir sie --
man verzeihe in der Schweiz das ketzerische Wort -- selbst übertrafen. Denn,
den müssigen Streit über die vermeintlich absolut beste Staatsform bei Seite
gelassen, bietet die deutsche Reichsverfassung und -Gesetzgebung von heute der
schweizerischen Bundesverfassung und -Gesetzgebung auch in ihrer neuesten Ge¬
stalt in mehr als einer Beziehung ein unerreichtes Vorbild. Ich greife nur
eins heraus: das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz. Eine tiefergreifende
Scene sollte uns die Gebrechen der schweizerischen Gesetzgebung ans diesem
Gebiete recht nahe vor Augen führen.

Als unser Zug in Escholzmatt hielt, lenkte das laute Jammern eines etwa
siebenjährigen Knaben auf dem Perron Aller Aufmerksamkeit auf sich. Der
Kleine stand vorn übergebeugt, die Hände flehentlich nach unserm Wagen aus¬
gestreckt, in den eine Frau in Trauerkleidern soeben eingestiegen war, offenbar
seine Mutter. Das Weinen des Kindes klang herzbrechend. "Gang jetzt hei(in),
Seppli!" rief ihm die Freir mit erstickter Stimme aus dem Wagenfenster zu. Der
Kleine stand aber wie festgebannt und erhob wieder flehentlich die Arme nach
der Mutter, in der Rechten einen Stecken, auf den er sich stützen sollte, wenn
er über den Berg "hei" ginge, und zweimal noch wiederholte die Mutter das
Gebot: "Gang jetzt hei, Seppli." Dann brach auch sie in Schluchzen aus, in¬
dem sie auf die Bank niedersank und ihr Gesicht in den Händen barg. Sie
wußte wohl, daß ihr Kind kein Heim finde, wenn er ihrer Weisung folgte.
Ihr Mann war längst ans seiner Heimatsgemeinde nach dem Kanton Zürich
in die Nähe von Zürich verzogen und hatte hier geheirathet. Nun war er
gestorben und hatte sie mit nenn Kindern allein in der Welt gelassen. Sie
hatte ein Recht auf Unterstützung von Seiten der Heimatgemeinde des Mannes.


— ergoß sich der bernische Heerhaufen, des Weges unkundig, riickwärts nach
Makkers. Im Dunkel kam das Gros an. Die vorausjagenden Reiter halten
dnrch ihren wilden Galopp besser als jeder Schlachtbericht den Bewohnern des
Ortes die Niederlage und den Schrecken der Feinde verkündet. Als das Gros
der Fliehenden in Makkers anlangte, sperrte ein großer Heuwagen als Barrikade
den Dorfweg. Plötzlich gab es Feuer ringsum. In Haufen sank die Jugend
Beruf in ihr Blut. Nur der alte Berner Löwenmut!), der auf so vielen
Schlachtfeldern Enropas Lorbeern gepflückt hat und dem nicht am wenigsten
das Meisterwerk Thorwaldsens, der sterbende Löwe zu Luzern, gesetzt ist, er¬
zwang nnter so ungünstigen Verhältnissen dennoch den Durchpaß nach der Heimat.

Wie rasch hat die Schweiz die Wunden verschmerzt, die der Sonderbunds¬
krieg ihr geschlagen, wie rasch des blutigen Streites vergessen! Schon 1848,
inmitten der Unruhen des ganzen Kontinentes, reichten sich die feindlichen
Brüder die Hand zum Bunde der Eidgenossenschaft, auf Grundlage einer Ver¬
fassung, die uns Deutschen so lange als Ideal vorschwebte, bis wir sie —
man verzeihe in der Schweiz das ketzerische Wort — selbst übertrafen. Denn,
den müssigen Streit über die vermeintlich absolut beste Staatsform bei Seite
gelassen, bietet die deutsche Reichsverfassung und -Gesetzgebung von heute der
schweizerischen Bundesverfassung und -Gesetzgebung auch in ihrer neuesten Ge¬
stalt in mehr als einer Beziehung ein unerreichtes Vorbild. Ich greife nur
eins heraus: das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz. Eine tiefergreifende
Scene sollte uns die Gebrechen der schweizerischen Gesetzgebung ans diesem
Gebiete recht nahe vor Augen führen.

Als unser Zug in Escholzmatt hielt, lenkte das laute Jammern eines etwa
siebenjährigen Knaben auf dem Perron Aller Aufmerksamkeit auf sich. Der
Kleine stand vorn übergebeugt, die Hände flehentlich nach unserm Wagen aus¬
gestreckt, in den eine Frau in Trauerkleidern soeben eingestiegen war, offenbar
seine Mutter. Das Weinen des Kindes klang herzbrechend. „Gang jetzt hei(in),
Seppli!" rief ihm die Freir mit erstickter Stimme aus dem Wagenfenster zu. Der
Kleine stand aber wie festgebannt und erhob wieder flehentlich die Arme nach
der Mutter, in der Rechten einen Stecken, auf den er sich stützen sollte, wenn
er über den Berg „hei" ginge, und zweimal noch wiederholte die Mutter das
Gebot: „Gang jetzt hei, Seppli." Dann brach auch sie in Schluchzen aus, in¬
dem sie auf die Bank niedersank und ihr Gesicht in den Händen barg. Sie
wußte wohl, daß ihr Kind kein Heim finde, wenn er ihrer Weisung folgte.
Ihr Mann war längst ans seiner Heimatsgemeinde nach dem Kanton Zürich
in die Nähe von Zürich verzogen und hatte hier geheirathet. Nun war er
gestorben und hatte sie mit nenn Kindern allein in der Welt gelassen. Sie
hatte ein Recht auf Unterstützung von Seiten der Heimatgemeinde des Mannes.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/439>, abgerufen am 28.09.2024.