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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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"Lucifer, der Erzengel, stolz und herrschsüchtig und von blinder Eigen¬
liebe getrieben, beneidete Gottes unbeschränkte Größe und auch den Menschen,
nach Gottes Bilde geschaffen und in dem üppigen Paradiese mit der Herrschaft
über den Erdboden beschenkt. Er beneidete.Gott und den Menschen um so
mehr, als Gabriel, Gottes Herold, alle Engel für dienstbare Geister erklärte
und ihnen das Geheimniß von Gottes zukünftigen Meuschwerden entdeckte,
wodurch das Engelthum übergangen und die wahre menschliche Natur mit der
Gottheit vereinigt werden sollte und gleiche Rechte und Majestät zu erwarten
hatte, weshalb der stolze und neidische Geist, in dem Bestreben, sich selbst
Gott gleich zu stellen und den Menschen außerhalb des Himmels zu halten,
durch Mithelfer unzählige Engel aufwiegelte, bewaffnete und trotz Raphaels
Warnung gegen Michael, den Feldherrn des Himmels und seine Heerschaaren
führte, besiegt Iwurde^, nach der Niederlage aus Rachsucht den ersten Menschen
und durch ihn alle Nachkommen zum Falle brachte und selbst mit seinen An¬
führern in die Hölle gestürzt und auf ewig verdammt wurde." In diesem
(stilistisch ganz verunglückten) Satze haben wir in kurzen Strichen die ganze
Fabel des Stücks*). Die Tragödien beider Dichter behandeln somit die
gleiche Idee, den tragischen Kampf zwischen Himmel und Hölle, Gott und
Satan; in beiden sind Hochmuth, Herrschsucht und Neid die treibenden Motive,
jedoch so, daß Milton an die Erhebung des eingebornen Sohnes über die
himmlischen Fürsten anknüpft, Vorbei dagegen in der Neuschaffung des
Menschen und seiner zukunftsreichen Entwickelung das Motiv zu Auflehnung
und Kampf findet. Der Niederländer hat die Scene nie auf die Erde verlegt;
aus den paradiesischen Fluren dringen nur die Berichte vou des Menschen
seliger Gegenwart und Zukunft hinauf in die himmlischen Regionen, die clra-
watis xei-son-is sind bei ihm ausschließlich Engel, Gott thront fern in er¬
habenen Höhen.

Apollyon, von Lucifer auf Kundschaft "nach Adams Sein und Wohl"
Schande, betritt eben, von Kreis zu Kreis sich aufwärts schwingend, des
Himmels Schwelle;


"eine Spur von Licht
Erglänzet hinter ihm, wo seine schnellen Schwingen
Durch Wolken brechen."


) Die Kenntniß des Milton'schen Epos will ich in der nachfolgenden Analyse im
^ wßen und Ganzen voraussetzen; der bloße Hinweis im Citat muß genügen, auf die Ver¬
hältnisse beider Dichter zu einander ein Licht fallen zu lassen. Die Stellen, die ich dem
^ucifer" entnehme, sind nach der Wilde'schen Uebersetzung, die des "Verlornen Paradieses"
ach d^ von Liebert (Milton, Studien zur Geschichte des englischen Geistes, Hamburg,
^ gegeben.

„Lucifer, der Erzengel, stolz und herrschsüchtig und von blinder Eigen¬
liebe getrieben, beneidete Gottes unbeschränkte Größe und auch den Menschen,
nach Gottes Bilde geschaffen und in dem üppigen Paradiese mit der Herrschaft
über den Erdboden beschenkt. Er beneidete.Gott und den Menschen um so
mehr, als Gabriel, Gottes Herold, alle Engel für dienstbare Geister erklärte
und ihnen das Geheimniß von Gottes zukünftigen Meuschwerden entdeckte,
wodurch das Engelthum übergangen und die wahre menschliche Natur mit der
Gottheit vereinigt werden sollte und gleiche Rechte und Majestät zu erwarten
hatte, weshalb der stolze und neidische Geist, in dem Bestreben, sich selbst
Gott gleich zu stellen und den Menschen außerhalb des Himmels zu halten,
durch Mithelfer unzählige Engel aufwiegelte, bewaffnete und trotz Raphaels
Warnung gegen Michael, den Feldherrn des Himmels und seine Heerschaaren
führte, besiegt Iwurde^, nach der Niederlage aus Rachsucht den ersten Menschen
und durch ihn alle Nachkommen zum Falle brachte und selbst mit seinen An¬
führern in die Hölle gestürzt und auf ewig verdammt wurde." In diesem
(stilistisch ganz verunglückten) Satze haben wir in kurzen Strichen die ganze
Fabel des Stücks*). Die Tragödien beider Dichter behandeln somit die
gleiche Idee, den tragischen Kampf zwischen Himmel und Hölle, Gott und
Satan; in beiden sind Hochmuth, Herrschsucht und Neid die treibenden Motive,
jedoch so, daß Milton an die Erhebung des eingebornen Sohnes über die
himmlischen Fürsten anknüpft, Vorbei dagegen in der Neuschaffung des
Menschen und seiner zukunftsreichen Entwickelung das Motiv zu Auflehnung
und Kampf findet. Der Niederländer hat die Scene nie auf die Erde verlegt;
aus den paradiesischen Fluren dringen nur die Berichte vou des Menschen
seliger Gegenwart und Zukunft hinauf in die himmlischen Regionen, die clra-
watis xei-son-is sind bei ihm ausschließlich Engel, Gott thront fern in er¬
habenen Höhen.

Apollyon, von Lucifer auf Kundschaft „nach Adams Sein und Wohl"
Schande, betritt eben, von Kreis zu Kreis sich aufwärts schwingend, des
Himmels Schwelle;


„eine Spur von Licht
Erglänzet hinter ihm, wo seine schnellen Schwingen
Durch Wolken brechen."


) Die Kenntniß des Milton'schen Epos will ich in der nachfolgenden Analyse im
^ wßen und Ganzen voraussetzen; der bloße Hinweis im Citat muß genügen, auf die Ver¬
hältnisse beider Dichter zu einander ein Licht fallen zu lassen. Die Stellen, die ich dem
^ucifer« entnehme, sind nach der Wilde'schen Uebersetzung, die des „Verlornen Paradieses"
ach d^ von Liebert (Milton, Studien zur Geschichte des englischen Geistes, Hamburg,
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[0253] „Lucifer, der Erzengel, stolz und herrschsüchtig und von blinder Eigen¬ liebe getrieben, beneidete Gottes unbeschränkte Größe und auch den Menschen, nach Gottes Bilde geschaffen und in dem üppigen Paradiese mit der Herrschaft über den Erdboden beschenkt. Er beneidete.Gott und den Menschen um so mehr, als Gabriel, Gottes Herold, alle Engel für dienstbare Geister erklärte und ihnen das Geheimniß von Gottes zukünftigen Meuschwerden entdeckte, wodurch das Engelthum übergangen und die wahre menschliche Natur mit der Gottheit vereinigt werden sollte und gleiche Rechte und Majestät zu erwarten hatte, weshalb der stolze und neidische Geist, in dem Bestreben, sich selbst Gott gleich zu stellen und den Menschen außerhalb des Himmels zu halten, durch Mithelfer unzählige Engel aufwiegelte, bewaffnete und trotz Raphaels Warnung gegen Michael, den Feldherrn des Himmels und seine Heerschaaren führte, besiegt Iwurde^, nach der Niederlage aus Rachsucht den ersten Menschen und durch ihn alle Nachkommen zum Falle brachte und selbst mit seinen An¬ führern in die Hölle gestürzt und auf ewig verdammt wurde." In diesem (stilistisch ganz verunglückten) Satze haben wir in kurzen Strichen die ganze Fabel des Stücks*). Die Tragödien beider Dichter behandeln somit die gleiche Idee, den tragischen Kampf zwischen Himmel und Hölle, Gott und Satan; in beiden sind Hochmuth, Herrschsucht und Neid die treibenden Motive, jedoch so, daß Milton an die Erhebung des eingebornen Sohnes über die himmlischen Fürsten anknüpft, Vorbei dagegen in der Neuschaffung des Menschen und seiner zukunftsreichen Entwickelung das Motiv zu Auflehnung und Kampf findet. Der Niederländer hat die Scene nie auf die Erde verlegt; aus den paradiesischen Fluren dringen nur die Berichte vou des Menschen seliger Gegenwart und Zukunft hinauf in die himmlischen Regionen, die clra- watis xei-son-is sind bei ihm ausschließlich Engel, Gott thront fern in er¬ habenen Höhen. Apollyon, von Lucifer auf Kundschaft „nach Adams Sein und Wohl" Schande, betritt eben, von Kreis zu Kreis sich aufwärts schwingend, des Himmels Schwelle; „eine Spur von Licht Erglänzet hinter ihm, wo seine schnellen Schwingen Durch Wolken brechen." ) Die Kenntniß des Milton'schen Epos will ich in der nachfolgenden Analyse im ^ wßen und Ganzen voraussetzen; der bloße Hinweis im Citat muß genügen, auf die Ver¬ hältnisse beider Dichter zu einander ein Licht fallen zu lassen. Die Stellen, die ich dem ^ucifer« entnehme, sind nach der Wilde'schen Uebersetzung, die des „Verlornen Paradieses" ach d^ von Liebert (Milton, Studien zur Geschichte des englischen Geistes, Hamburg, ^ gegeben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/253>, abgerufen am 28.09.2024.