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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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nehme" alle besonnenen Geologen und Ethnographen an, daß uns ein weit
kürzerer Zeitraum von jenen Urmenschen trennt. Mehrere Pfahlbauten sind
ziemlich sicher noch wenige Jahrhunderte v, Chr. bewohnt gewesen. Hätte die
Bewohnung Westeuropas in solchen und ähnlichen offenbar großenteils stän¬
digen Wohnplätzen hunderttausend und mehr Jahre gedauert, wie man früher
meinte, so würden wir ohne Zweifel weit mehr Reste von jenen Menschen
vorfinden, als gefunden worden sind. Auch die Rechnungen mit naturhisto¬
rischen Thatsachen und den natürlichen Zeitmaßen (Anschwemmungen der Flüsse
in Seen und im Meere, Deltabildungen, die Aushöhlung der Stromthäler,
das Zurückweichen der Wasserfälle) geben in der Regel keine größeren Zahlen
als 6--7000 Jahre. Da man nnter den Reste" der Pfahlbauten im Staren-
berger See Hühnerknochen gefunden hat, so müssen jene mindestens noch im
sechsten Jahrhundert v. Chr. bewohnt gewesen sein. Der westeuropäische Ur¬
mensch hat allerdings schon während der Eiszeit, wenn auch wohl erst am
Ende derselben gelebt, aber diese Zeit ist nicht sehr weit vor unsre Tage znriick
zu versetzen. Das einzig sichere Zeichen, daß irgendwo Gletscher gewesen sind,
ist die Politur und Ritzung von Felsen und das Auffinden geritzter Rollsteine.
Eben diese liefern den Beweis, daß die Gletscher einst tief in die Niederung
herabreichten. Wir wissen aber andrerseits, daß kein Gestein der Wirkung der
Atmosphärilien lange widersteht; denn selbst unsere bis zum spiegeln polirten
Grauitsockel von Statuen zeigen schon nach dreißig Jahren eine sehr merkliche
Einwirkung des Wetters. Wollten wir nnn annehmen, daß die Eisperiode
schon viele Jahrtausende vorüber sei, wie wäre es dann möglich, daß wir jetzt
noch die Politur, die Streifung und die nur oberflächliche Ritzung der Fels¬
wände und Moränenblöcke deutlich erkennen?

Aber vielleicht zwingt uns das, was wir von dem Körperbau, der Lebens¬
weise und den Werkzeugen der Pfahlbau- und Höhlenmenschen wissen, sie der
historischen Menschheit zeitlich fern zu rücken. Sehen wir zu.

Schon seit langer Zeit hat man im Bau des Schädels ein Merkmal zur
Sonderung der verschiedenen Menschenrassen gesucht. Ausgedehntere alle
Völkerstcimme umfassende Untersuchungen haben zwar gezeigt, daß kein Zeichen
an Schädeln ausnahmslos Eigenthum einer bestimmten Rasse ist, und daß die
Schlüsse, die man ans dein Volumen des Schädels auf die geistige Begabung
gezogen hat, ganz unzuverlässig sind, aber immerhin ist bei unvermischten
Völkerstämmen ein gewisser Typus der Schädel der normale und dient sehr
gut zur Charakterisirung derselben. Der größte Unterschied der bei der Be¬
trachtung der Schädel von gewissen Rassen in die Angen fällt, ist die Ab¬
weichung, die sich im Verhältniß des Längen- und Breitendurchmessers zu
erkennen gibt, und man hat darnach brachycephale und dolychoeephale Rassen


nehme« alle besonnenen Geologen und Ethnographen an, daß uns ein weit
kürzerer Zeitraum von jenen Urmenschen trennt. Mehrere Pfahlbauten sind
ziemlich sicher noch wenige Jahrhunderte v, Chr. bewohnt gewesen. Hätte die
Bewohnung Westeuropas in solchen und ähnlichen offenbar großenteils stän¬
digen Wohnplätzen hunderttausend und mehr Jahre gedauert, wie man früher
meinte, so würden wir ohne Zweifel weit mehr Reste von jenen Menschen
vorfinden, als gefunden worden sind. Auch die Rechnungen mit naturhisto¬
rischen Thatsachen und den natürlichen Zeitmaßen (Anschwemmungen der Flüsse
in Seen und im Meere, Deltabildungen, die Aushöhlung der Stromthäler,
das Zurückweichen der Wasserfälle) geben in der Regel keine größeren Zahlen
als 6—7000 Jahre. Da man nnter den Reste» der Pfahlbauten im Staren-
berger See Hühnerknochen gefunden hat, so müssen jene mindestens noch im
sechsten Jahrhundert v. Chr. bewohnt gewesen sein. Der westeuropäische Ur¬
mensch hat allerdings schon während der Eiszeit, wenn auch wohl erst am
Ende derselben gelebt, aber diese Zeit ist nicht sehr weit vor unsre Tage znriick
zu versetzen. Das einzig sichere Zeichen, daß irgendwo Gletscher gewesen sind,
ist die Politur und Ritzung von Felsen und das Auffinden geritzter Rollsteine.
Eben diese liefern den Beweis, daß die Gletscher einst tief in die Niederung
herabreichten. Wir wissen aber andrerseits, daß kein Gestein der Wirkung der
Atmosphärilien lange widersteht; denn selbst unsere bis zum spiegeln polirten
Grauitsockel von Statuen zeigen schon nach dreißig Jahren eine sehr merkliche
Einwirkung des Wetters. Wollten wir nnn annehmen, daß die Eisperiode
schon viele Jahrtausende vorüber sei, wie wäre es dann möglich, daß wir jetzt
noch die Politur, die Streifung und die nur oberflächliche Ritzung der Fels¬
wände und Moränenblöcke deutlich erkennen?

Aber vielleicht zwingt uns das, was wir von dem Körperbau, der Lebens¬
weise und den Werkzeugen der Pfahlbau- und Höhlenmenschen wissen, sie der
historischen Menschheit zeitlich fern zu rücken. Sehen wir zu.

Schon seit langer Zeit hat man im Bau des Schädels ein Merkmal zur
Sonderung der verschiedenen Menschenrassen gesucht. Ausgedehntere alle
Völkerstcimme umfassende Untersuchungen haben zwar gezeigt, daß kein Zeichen
an Schädeln ausnahmslos Eigenthum einer bestimmten Rasse ist, und daß die
Schlüsse, die man ans dein Volumen des Schädels auf die geistige Begabung
gezogen hat, ganz unzuverlässig sind, aber immerhin ist bei unvermischten
Völkerstämmen ein gewisser Typus der Schädel der normale und dient sehr
gut zur Charakterisirung derselben. Der größte Unterschied der bei der Be¬
trachtung der Schädel von gewissen Rassen in die Angen fällt, ist die Ab¬
weichung, die sich im Verhältniß des Längen- und Breitendurchmessers zu
erkennen gibt, und man hat darnach brachycephale und dolychoeephale Rassen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/19>, abgerufen am 28.09.2024.