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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Ruhe zeigt sich auch in seinen Schriften: das von metaphysischen Grundlagen
aufstrebende, festgestützte Gebäude seines Systems schließt sich ebenso von der
Außenwelt ab, wie der Baumeister selbst, und der Maßstab des praktischen
Lebens fehlt entweder, wie bei der Bestimmung des Verhältnisses der Attribute,
des Ursprungs der Affekte, oder wir finden, wo die Übertragung des spekula¬
tiven Ergebnisses auf das reale Leben nicht zu umgehen ist, einen Mangel an
Uebereinstimmung, wie bei der Definition der Willensfreiheit und des Bösen.
Lessing andrerseits war in steter Berührung mit der Welt und rastlos in ihr
thätig. Mannichfaltig sind die Verhältnisse, in denen er lebte, und die Wissens¬
gebiete, welche sein Geist umfaßte. Als scharfer Beobachter studirte er die
Menschen und die Dinge. Daraus, nicht aus abstrakter Spekulation, ist seine
Weltanschauung hervorgegangen. Was wir bei ihm von rein metaphysischer
Spekulation finden, stammt im Wesentlichen von Spinoza, zu dem ihn dessen
logische Schärfe hingezogen hatte. Bei Lessing trat aber noch die Betrachtung
der moralischen Welt hinzu, und diese Betrachtung überwiegt bei ihm ebenso
sehr die metaphysische Spekulation, wie diese bei Spinoza jene überwiegt. Die
Stellung des Lessing'schen geht über das Spinoza'sche Eine weit hinaus
durch die größere Selbständigkeit, welche dem einzelnen Individuum zugewiesen
wird, und durch die Bestimmung des Menschen, nach dem Mvralgesetze zu handeln.

Hierdurch wurde Lessing dahin geführt, eine Teleologie anzunehmen, wo¬
durch er sich von Spinoza völlig zu unterscheiden scheint. Aber wenn letzterer
die Teleologie entschieden verwirft, so hat er sich ihrer doch da, wo er die
moralische Welt berücksichtigen muß, nicht ganz entschlagen können. Auch er
kennt eine Entwickelung des einzelnen Menschen, sie ist ihm aber nur Wachs¬
thum der Herrschaft des Verstandes über die Leidenschaften bis zu völliger
Beherrschung derselben (summg. aeaniöSLenti". anni oder, was Dasselbe, bsati-
wäo). Diese ist nicht Belohnung der Tugend, sondern die Tugend selbst, wir
genießen nicht, weil wir unsere Gelüste zügeln, sondern weil wir die Tugend
genießen, die Kraft, Macht, Können ist, können wir unsere Lüste zügeln. Bei
Lessing ist der Quell aller moralischen Entwickelung das Handeln "mit der
von Vorurtheilen freien Liebe und Sanftmuth, mit herzlicher Verträglichkeit,
mit Wohlthun, mit innigster Ergebenheit in Gott", und das Ziel ist, gut zu
sein und zu handeln um des Guten selbst willen, lediglich weil es das Gute
ist. In Spinoza's System herrscht der ausgeprägteste Determinismus, und
wenn er dennoch eine gewisse Freiheit des Menschen in Bezug auf die einzelne
Handlung zugeben muß, so ist diese Freiheit mit dem Determinismus nicht zu
vereinigen. Auch Lessing bekennt sich entschieden zu Zwang und Nothwendig¬
keit, dieselben schließen aber die Freiheit, soweit sie sich mit dem Mvralgesetze
verträgt, keineswegs ans. Ebenso verhält es sich mit der Stellung der beiden


Ruhe zeigt sich auch in seinen Schriften: das von metaphysischen Grundlagen
aufstrebende, festgestützte Gebäude seines Systems schließt sich ebenso von der
Außenwelt ab, wie der Baumeister selbst, und der Maßstab des praktischen
Lebens fehlt entweder, wie bei der Bestimmung des Verhältnisses der Attribute,
des Ursprungs der Affekte, oder wir finden, wo die Übertragung des spekula¬
tiven Ergebnisses auf das reale Leben nicht zu umgehen ist, einen Mangel an
Uebereinstimmung, wie bei der Definition der Willensfreiheit und des Bösen.
Lessing andrerseits war in steter Berührung mit der Welt und rastlos in ihr
thätig. Mannichfaltig sind die Verhältnisse, in denen er lebte, und die Wissens¬
gebiete, welche sein Geist umfaßte. Als scharfer Beobachter studirte er die
Menschen und die Dinge. Daraus, nicht aus abstrakter Spekulation, ist seine
Weltanschauung hervorgegangen. Was wir bei ihm von rein metaphysischer
Spekulation finden, stammt im Wesentlichen von Spinoza, zu dem ihn dessen
logische Schärfe hingezogen hatte. Bei Lessing trat aber noch die Betrachtung
der moralischen Welt hinzu, und diese Betrachtung überwiegt bei ihm ebenso
sehr die metaphysische Spekulation, wie diese bei Spinoza jene überwiegt. Die
Stellung des Lessing'schen geht über das Spinoza'sche Eine weit hinaus
durch die größere Selbständigkeit, welche dem einzelnen Individuum zugewiesen
wird, und durch die Bestimmung des Menschen, nach dem Mvralgesetze zu handeln.

Hierdurch wurde Lessing dahin geführt, eine Teleologie anzunehmen, wo¬
durch er sich von Spinoza völlig zu unterscheiden scheint. Aber wenn letzterer
die Teleologie entschieden verwirft, so hat er sich ihrer doch da, wo er die
moralische Welt berücksichtigen muß, nicht ganz entschlagen können. Auch er
kennt eine Entwickelung des einzelnen Menschen, sie ist ihm aber nur Wachs¬
thum der Herrschaft des Verstandes über die Leidenschaften bis zu völliger
Beherrschung derselben (summg. aeaniöSLenti». anni oder, was Dasselbe, bsati-
wäo). Diese ist nicht Belohnung der Tugend, sondern die Tugend selbst, wir
genießen nicht, weil wir unsere Gelüste zügeln, sondern weil wir die Tugend
genießen, die Kraft, Macht, Können ist, können wir unsere Lüste zügeln. Bei
Lessing ist der Quell aller moralischen Entwickelung das Handeln „mit der
von Vorurtheilen freien Liebe und Sanftmuth, mit herzlicher Verträglichkeit,
mit Wohlthun, mit innigster Ergebenheit in Gott", und das Ziel ist, gut zu
sein und zu handeln um des Guten selbst willen, lediglich weil es das Gute
ist. In Spinoza's System herrscht der ausgeprägteste Determinismus, und
wenn er dennoch eine gewisse Freiheit des Menschen in Bezug auf die einzelne
Handlung zugeben muß, so ist diese Freiheit mit dem Determinismus nicht zu
vereinigen. Auch Lessing bekennt sich entschieden zu Zwang und Nothwendig¬
keit, dieselben schließen aber die Freiheit, soweit sie sich mit dem Mvralgesetze
verträgt, keineswegs ans. Ebenso verhält es sich mit der Stellung der beiden


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[0126] Ruhe zeigt sich auch in seinen Schriften: das von metaphysischen Grundlagen aufstrebende, festgestützte Gebäude seines Systems schließt sich ebenso von der Außenwelt ab, wie der Baumeister selbst, und der Maßstab des praktischen Lebens fehlt entweder, wie bei der Bestimmung des Verhältnisses der Attribute, des Ursprungs der Affekte, oder wir finden, wo die Übertragung des spekula¬ tiven Ergebnisses auf das reale Leben nicht zu umgehen ist, einen Mangel an Uebereinstimmung, wie bei der Definition der Willensfreiheit und des Bösen. Lessing andrerseits war in steter Berührung mit der Welt und rastlos in ihr thätig. Mannichfaltig sind die Verhältnisse, in denen er lebte, und die Wissens¬ gebiete, welche sein Geist umfaßte. Als scharfer Beobachter studirte er die Menschen und die Dinge. Daraus, nicht aus abstrakter Spekulation, ist seine Weltanschauung hervorgegangen. Was wir bei ihm von rein metaphysischer Spekulation finden, stammt im Wesentlichen von Spinoza, zu dem ihn dessen logische Schärfe hingezogen hatte. Bei Lessing trat aber noch die Betrachtung der moralischen Welt hinzu, und diese Betrachtung überwiegt bei ihm ebenso sehr die metaphysische Spekulation, wie diese bei Spinoza jene überwiegt. Die Stellung des Lessing'schen geht über das Spinoza'sche Eine weit hinaus durch die größere Selbständigkeit, welche dem einzelnen Individuum zugewiesen wird, und durch die Bestimmung des Menschen, nach dem Mvralgesetze zu handeln. Hierdurch wurde Lessing dahin geführt, eine Teleologie anzunehmen, wo¬ durch er sich von Spinoza völlig zu unterscheiden scheint. Aber wenn letzterer die Teleologie entschieden verwirft, so hat er sich ihrer doch da, wo er die moralische Welt berücksichtigen muß, nicht ganz entschlagen können. Auch er kennt eine Entwickelung des einzelnen Menschen, sie ist ihm aber nur Wachs¬ thum der Herrschaft des Verstandes über die Leidenschaften bis zu völliger Beherrschung derselben (summg. aeaniöSLenti». anni oder, was Dasselbe, bsati- wäo). Diese ist nicht Belohnung der Tugend, sondern die Tugend selbst, wir genießen nicht, weil wir unsere Gelüste zügeln, sondern weil wir die Tugend genießen, die Kraft, Macht, Können ist, können wir unsere Lüste zügeln. Bei Lessing ist der Quell aller moralischen Entwickelung das Handeln „mit der von Vorurtheilen freien Liebe und Sanftmuth, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun, mit innigster Ergebenheit in Gott", und das Ziel ist, gut zu sein und zu handeln um des Guten selbst willen, lediglich weil es das Gute ist. In Spinoza's System herrscht der ausgeprägteste Determinismus, und wenn er dennoch eine gewisse Freiheit des Menschen in Bezug auf die einzelne Handlung zugeben muß, so ist diese Freiheit mit dem Determinismus nicht zu vereinigen. Auch Lessing bekennt sich entschieden zu Zwang und Nothwendig¬ keit, dieselben schließen aber die Freiheit, soweit sie sich mit dem Mvralgesetze verträgt, keineswegs ans. Ebenso verhält es sich mit der Stellung der beiden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/126>, abgerufen am 28.09.2024.