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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Die Erde hat eine Geschichte, sie hat mit ihren Bewohnern einen Ent¬
wickelungsprozeß durchgemacht, wir erkennen eine Steigerung der Organisation
des Pflanzen- und Thierreichs, wenn auch nicht in allen einzelnen Gliedern.
Den Gang aber, den jener Entwickelnngsprozeß genommen hat, und die
Mittel, die dabei gewirkt haben, kennen wir nicht mit voller Bestimmtheit, im
Gegentheil, sehr vieles von dem, was man darüber Nüssen null, beruht ledig¬
lich auf Vermuthung, der andere Bermuthnngeu gegenüber sieben. Ein Bei¬
spiel ist die bekannte Thatsache, daß früher ganz allgemein im Entwickelungs-
gang der Erde eine Reihe gewaltiger Katastrophen und eingreifender Revolu¬
tionen mit plötzlicher Veränderung der Fauna und Flora angenommen wurde,
während durch Lyell die Anschauung Platz griff, daß Alles so wie heutzutage,
also ruhig und allmählich, sich umgestaltet habe.

Schon hieran sehen wir, von welcher Bedeutung und welchen weitreichen¬
den Folgen die Ansicht ist, die wir von der Zeitdauer haben, welche die Ent¬
wickelungsgeschichte der Erde in Anspruch genommen hat. Es ist höchst be¬
zeichnend für die schwierige Lage, in welcher sich die Geologie im Vergleich
mit andern Wissenschaften befindet, und andrerseits für die Art und Weise, wie
Manche Geologie treiben, daß die in jeder Geschichte als Fnndamentalfrage
anerkannte Frage nach der Zeit in den meisten Lehrbüchern jeuer Wissenschaft
kaum erwähnt wird. Es geht daraus hervor, daß sich in Beziehung auf die
geologische Chronologie sehr wenig Sicheres sagen läßt. Diese Unsicherheit
aber dazu auszunutzen, daß man für jeden einzelnen Abschnitt der Erdgeschichte
unermeßliche Zeiträume annimmt, ist nicht erlaubt. sehen wir uus nach den
Mitteln um, mit denen wir Zeitmaße für geologische Vorgänge gewinnen
können, so finden wir theils allgemein physikalische, theils rein geologische
Thatsachen, welche unter gewissen Voraussetzungen gestatten, die Zeitdauer ent¬
weder der gestimmten Entwickelung der Erde bis heute oder einzelner Perioden
derselben zu bestimmen. Ist die Zuverlässigkeit jeder einzelnen dahingehender
Berechnung im Augenblicke gering, so erhöht sie sich, wenn mehrere solche 'Be¬
rechnungen oder alle ungefähr übereinstimmen, in ähnlicher Weise, wie ein
Mittelwerth aus vielen fehlerhaften einzelnen Beobachtungen Glaubwürdigkeit
verdient.

Die Physik bietet uns in zweierlei Arten von Beobachtungen Mittel zur
Bestimmung der Zeitdauer, welche die Geschichte der Erde von dem Zeitpunkte
an umfaßt, wo sie als flüssige Kugel rotirte. Die erste Methode, hierfür eine
Zahl zu finden, stützt sich auf die Gestalt der Erde und die Tageslänge. Wie
bekannt, dauert gegenwärtig die Rotation der Erde 24 Stunden weniger vier
Minnten, ist aber durch die Einwirkung von Ebbe und Flut einem steten
Langsamerwerden unterworfen. Die Abplattung der Erde ist eine Folge der


Die Erde hat eine Geschichte, sie hat mit ihren Bewohnern einen Ent¬
wickelungsprozeß durchgemacht, wir erkennen eine Steigerung der Organisation
des Pflanzen- und Thierreichs, wenn auch nicht in allen einzelnen Gliedern.
Den Gang aber, den jener Entwickelnngsprozeß genommen hat, und die
Mittel, die dabei gewirkt haben, kennen wir nicht mit voller Bestimmtheit, im
Gegentheil, sehr vieles von dem, was man darüber Nüssen null, beruht ledig¬
lich auf Vermuthung, der andere Bermuthnngeu gegenüber sieben. Ein Bei¬
spiel ist die bekannte Thatsache, daß früher ganz allgemein im Entwickelungs-
gang der Erde eine Reihe gewaltiger Katastrophen und eingreifender Revolu¬
tionen mit plötzlicher Veränderung der Fauna und Flora angenommen wurde,
während durch Lyell die Anschauung Platz griff, daß Alles so wie heutzutage,
also ruhig und allmählich, sich umgestaltet habe.

Schon hieran sehen wir, von welcher Bedeutung und welchen weitreichen¬
den Folgen die Ansicht ist, die wir von der Zeitdauer haben, welche die Ent¬
wickelungsgeschichte der Erde in Anspruch genommen hat. Es ist höchst be¬
zeichnend für die schwierige Lage, in welcher sich die Geologie im Vergleich
mit andern Wissenschaften befindet, und andrerseits für die Art und Weise, wie
Manche Geologie treiben, daß die in jeder Geschichte als Fnndamentalfrage
anerkannte Frage nach der Zeit in den meisten Lehrbüchern jeuer Wissenschaft
kaum erwähnt wird. Es geht daraus hervor, daß sich in Beziehung auf die
geologische Chronologie sehr wenig Sicheres sagen läßt. Diese Unsicherheit
aber dazu auszunutzen, daß man für jeden einzelnen Abschnitt der Erdgeschichte
unermeßliche Zeiträume annimmt, ist nicht erlaubt. sehen wir uus nach den
Mitteln um, mit denen wir Zeitmaße für geologische Vorgänge gewinnen
können, so finden wir theils allgemein physikalische, theils rein geologische
Thatsachen, welche unter gewissen Voraussetzungen gestatten, die Zeitdauer ent¬
weder der gestimmten Entwickelung der Erde bis heute oder einzelner Perioden
derselben zu bestimmen. Ist die Zuverlässigkeit jeder einzelnen dahingehender
Berechnung im Augenblicke gering, so erhöht sie sich, wenn mehrere solche 'Be¬
rechnungen oder alle ungefähr übereinstimmen, in ähnlicher Weise, wie ein
Mittelwerth aus vielen fehlerhaften einzelnen Beobachtungen Glaubwürdigkeit
verdient.

Die Physik bietet uns in zweierlei Arten von Beobachtungen Mittel zur
Bestimmung der Zeitdauer, welche die Geschichte der Erde von dem Zeitpunkte
an umfaßt, wo sie als flüssige Kugel rotirte. Die erste Methode, hierfür eine
Zahl zu finden, stützt sich auf die Gestalt der Erde und die Tageslänge. Wie
bekannt, dauert gegenwärtig die Rotation der Erde 24 Stunden weniger vier
Minnten, ist aber durch die Einwirkung von Ebbe und Flut einem steten
Langsamerwerden unterworfen. Die Abplattung der Erde ist eine Folge der


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[0010] Die Erde hat eine Geschichte, sie hat mit ihren Bewohnern einen Ent¬ wickelungsprozeß durchgemacht, wir erkennen eine Steigerung der Organisation des Pflanzen- und Thierreichs, wenn auch nicht in allen einzelnen Gliedern. Den Gang aber, den jener Entwickelnngsprozeß genommen hat, und die Mittel, die dabei gewirkt haben, kennen wir nicht mit voller Bestimmtheit, im Gegentheil, sehr vieles von dem, was man darüber Nüssen null, beruht ledig¬ lich auf Vermuthung, der andere Bermuthnngeu gegenüber sieben. Ein Bei¬ spiel ist die bekannte Thatsache, daß früher ganz allgemein im Entwickelungs- gang der Erde eine Reihe gewaltiger Katastrophen und eingreifender Revolu¬ tionen mit plötzlicher Veränderung der Fauna und Flora angenommen wurde, während durch Lyell die Anschauung Platz griff, daß Alles so wie heutzutage, also ruhig und allmählich, sich umgestaltet habe. Schon hieran sehen wir, von welcher Bedeutung und welchen weitreichen¬ den Folgen die Ansicht ist, die wir von der Zeitdauer haben, welche die Ent¬ wickelungsgeschichte der Erde in Anspruch genommen hat. Es ist höchst be¬ zeichnend für die schwierige Lage, in welcher sich die Geologie im Vergleich mit andern Wissenschaften befindet, und andrerseits für die Art und Weise, wie Manche Geologie treiben, daß die in jeder Geschichte als Fnndamentalfrage anerkannte Frage nach der Zeit in den meisten Lehrbüchern jeuer Wissenschaft kaum erwähnt wird. Es geht daraus hervor, daß sich in Beziehung auf die geologische Chronologie sehr wenig Sicheres sagen läßt. Diese Unsicherheit aber dazu auszunutzen, daß man für jeden einzelnen Abschnitt der Erdgeschichte unermeßliche Zeiträume annimmt, ist nicht erlaubt. sehen wir uus nach den Mitteln um, mit denen wir Zeitmaße für geologische Vorgänge gewinnen können, so finden wir theils allgemein physikalische, theils rein geologische Thatsachen, welche unter gewissen Voraussetzungen gestatten, die Zeitdauer ent¬ weder der gestimmten Entwickelung der Erde bis heute oder einzelner Perioden derselben zu bestimmen. Ist die Zuverlässigkeit jeder einzelnen dahingehender Berechnung im Augenblicke gering, so erhöht sie sich, wenn mehrere solche 'Be¬ rechnungen oder alle ungefähr übereinstimmen, in ähnlicher Weise, wie ein Mittelwerth aus vielen fehlerhaften einzelnen Beobachtungen Glaubwürdigkeit verdient. Die Physik bietet uns in zweierlei Arten von Beobachtungen Mittel zur Bestimmung der Zeitdauer, welche die Geschichte der Erde von dem Zeitpunkte an umfaßt, wo sie als flüssige Kugel rotirte. Die erste Methode, hierfür eine Zahl zu finden, stützt sich auf die Gestalt der Erde und die Tageslänge. Wie bekannt, dauert gegenwärtig die Rotation der Erde 24 Stunden weniger vier Minnten, ist aber durch die Einwirkung von Ebbe und Flut einem steten Langsamerwerden unterworfen. Die Abplattung der Erde ist eine Folge der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/10>, abgerufen am 28.09.2024.