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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Schärfe verloren; es könnte sich fortan höchstens noch um einen Prioritäts-
streit handeln.

Die nationalliberale Partei dürste diese Wendung mit Genugthuung be¬
grüßen. Sie hat durch die Friedenthalsche Erklärung in Bezug auf die Ver¬
waltungsreform alles erlangt, was sie im gegenwärtigen Augenblicke billiger¬
weise fordern konnte; sie hat es erlangt durch ihr besonnenes Verhalten. Hätte
sie der Behauptung der fortschrittlichen Wortführer, daß die Reaktion bei
Bismarck beschlossene Sache sei, Glauben geschenkt, wäre sie dem Lockrufe, an
der "entschiedenen Opposition" theilzunehmen, gefolgt, so wäre ein Konflikt
entstanden, der sich in seiner weiteren Entwickelung gar nicht hätte absehen
lassen. Statt dessen ist heute eine Basis für die fernere Arbeit an dem Re¬
formwerke gegeben, deren befriedigender Charakter selbst von fortschrittlicher
Seite, wenn auch widerwillig, anerkannt wird. Die heillose Leichtfertigkeit
der Politik der Fortschrittsfraktion hat niemals nackter dagestanden, als in
diesem Augenblicke.

Trotz aller Genugthuung aber, die man über den von der Negierung ge¬
genüber der Verwaltuugsreform nunmehr endgültig eingenommenen Standpunkt
empfand, vermochte doch nicht die rechte freudige Zuversicht auszukommen. Auch
die besten Versprechungen einer Regierung können uur einen sehr relativen
Werth beanspruchen, wenn ihre eigene Zukunft so sehr im Ungewissen liegt,
wie dies heute bei uns der Fall ist. Die "Kanzlerkrise" ist nicht gelöst, die
"Friktionen", welche sie herbeigeführt, sind nicht ans der Welt geschafft, im
Gegentheil, ihre unterirdischen Faktoren sind allem Anscheine nach, neuerdings
mit frischen Kräften am Werk. Daß es sich dabei nicht um rein persönliche
Feindseligkeit, sondern um einen Kampf grundsätzlich verschiedener politischer
Systeme handelt, kann Niemand mehr bestreikn. Noch weiß kein Mensch, was
aus dieser Gährung schließlich hervorgehen wird. Die Entscheidung ist in den
letzten Tagen durch die Ankündigung, daß der Reichskanzler unter Umständen
nicht vor dem Frühjahr nach Berlin zurückkehren werde, sogar abermals in
unbestimmte Ferne gerückt. Wen mag es Wunder nehmen, wenn unter dem
Drucke solcher Unsicherheit das ganze politische Leben zu stagniren beginnt?
Zum mindesten wird man grade den besonnenen politischen Parteien nicht ver¬
argen dürfen, wenn sie sich einer großen Reserve befleißigen. Erwägungen
dieser Art haben der nationalliberalen Fraktion des Abgeordnetenhauses gegen¬
über den Friedenthalschen Erklärungen eine solche Zurückhaltung auferlegt.
Immerhin aber ist es unter allen Umständen eine bedeutsame Errungenschaft,
daß an die Stelle der Zerfahrenheit und Planlosigkeit, welche bisher in der
Behandlung der Verwaltuugsreform geherrscht, endlich ein festes Programm
getreten ist.


Schärfe verloren; es könnte sich fortan höchstens noch um einen Prioritäts-
streit handeln.

Die nationalliberale Partei dürste diese Wendung mit Genugthuung be¬
grüßen. Sie hat durch die Friedenthalsche Erklärung in Bezug auf die Ver¬
waltungsreform alles erlangt, was sie im gegenwärtigen Augenblicke billiger¬
weise fordern konnte; sie hat es erlangt durch ihr besonnenes Verhalten. Hätte
sie der Behauptung der fortschrittlichen Wortführer, daß die Reaktion bei
Bismarck beschlossene Sache sei, Glauben geschenkt, wäre sie dem Lockrufe, an
der „entschiedenen Opposition" theilzunehmen, gefolgt, so wäre ein Konflikt
entstanden, der sich in seiner weiteren Entwickelung gar nicht hätte absehen
lassen. Statt dessen ist heute eine Basis für die fernere Arbeit an dem Re¬
formwerke gegeben, deren befriedigender Charakter selbst von fortschrittlicher
Seite, wenn auch widerwillig, anerkannt wird. Die heillose Leichtfertigkeit
der Politik der Fortschrittsfraktion hat niemals nackter dagestanden, als in
diesem Augenblicke.

Trotz aller Genugthuung aber, die man über den von der Negierung ge¬
genüber der Verwaltuugsreform nunmehr endgültig eingenommenen Standpunkt
empfand, vermochte doch nicht die rechte freudige Zuversicht auszukommen. Auch
die besten Versprechungen einer Regierung können uur einen sehr relativen
Werth beanspruchen, wenn ihre eigene Zukunft so sehr im Ungewissen liegt,
wie dies heute bei uns der Fall ist. Die „Kanzlerkrise" ist nicht gelöst, die
„Friktionen", welche sie herbeigeführt, sind nicht ans der Welt geschafft, im
Gegentheil, ihre unterirdischen Faktoren sind allem Anscheine nach, neuerdings
mit frischen Kräften am Werk. Daß es sich dabei nicht um rein persönliche
Feindseligkeit, sondern um einen Kampf grundsätzlich verschiedener politischer
Systeme handelt, kann Niemand mehr bestreikn. Noch weiß kein Mensch, was
aus dieser Gährung schließlich hervorgehen wird. Die Entscheidung ist in den
letzten Tagen durch die Ankündigung, daß der Reichskanzler unter Umständen
nicht vor dem Frühjahr nach Berlin zurückkehren werde, sogar abermals in
unbestimmte Ferne gerückt. Wen mag es Wunder nehmen, wenn unter dem
Drucke solcher Unsicherheit das ganze politische Leben zu stagniren beginnt?
Zum mindesten wird man grade den besonnenen politischen Parteien nicht ver¬
argen dürfen, wenn sie sich einer großen Reserve befleißigen. Erwägungen
dieser Art haben der nationalliberalen Fraktion des Abgeordnetenhauses gegen¬
über den Friedenthalschen Erklärungen eine solche Zurückhaltung auferlegt.
Immerhin aber ist es unter allen Umständen eine bedeutsame Errungenschaft,
daß an die Stelle der Zerfahrenheit und Planlosigkeit, welche bisher in der
Behandlung der Verwaltuugsreform geherrscht, endlich ein festes Programm
getreten ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/480>, abgerufen am 22.07.2024.