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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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gehaust. In Voraussicht der schweren Zeit hatten schon zuvor massenhafte
Auswanderungen nach Aegypten und Smyrna stattgefunden. Von 50,000
Köpfen ist die muhammedcinische Bevölkerung auf 20,000 gesunken. Mächtig
regt sich das Selbstbewußtsein und der Unabhängigkeitssinn der griechisch
redenden Cyprioten. Längst weiß griechische List das lächerliche Verbot, daß
ein Nicht-Muhammedaner Eigenthümer eines Fahrzeuges, selbst nicht eines
Nachens werden darf, zu umgehen. -- Nicht besser wird Mytilene verwaltet. Der
ehemals treffliche Hafen, zu dessen Ausbaggerung ans eigene Kosten die Einwohner
sich seit 25 Jahren wiederholt erboten, ist so weit versandet, daß Dampfer dort nicht
mehr anlegen können. Man hat endlich Baggerschisfe gesandt; aber ohne eine
Schaufel Schlamm heraufzuholen, sind sie nach mehreren Monaten Aufenthalt
wieder abgesegelt. Dafür ist die Anwesenheit der Regierung bei Erpressung
von ganz willkürlichen Zöllen und Abgaben, z. B. einem Ortszuschlag von
30 Pfennigen ans jeden Brief, sehr bemeklich. -- In Manissa (dem alten
NgKQosia. act Lip^tuo) kamen noch im Sommer 1873 nach dem Amtsblatt
täglich im Durchschnitt vier bis fünf Mordthaten in der Stadt selbst vor.
Der klassische Despot, unter welchem dieses Maaß von öffentlicher Sicherheit
erreicht wurde, Mustafa Bey, befand sich zwar einige Monate später, unter
der Anklage einer Reihe der schwersten Amtsverbrechen, in Hast. Aber sein
Prozeß ist, wie meist in solchen Fällen, in aller Stille niedergeschlagen worden.
Eine ebenso beneidenswerthe Gegeud muß etwa um dieselbe Zeit Trapezunt
gewesen sein. Hier hatte eine einzige Familie, bestehend aus Vater, sechs
Söhnen und einer Tochter, 235 Mordthaten begangen, ehe die Behörde sich
entschloß, gegen die Uebelthäter einzuschreiten. Nach vierjährigen Prozeß wurden
zwei Glieder der sauberen Familie im Frühjahr 1874 gehängt. Die übrigen
befinden sich noch heute auf freiem Fuße.

Eingehend werden dann die traurigen Spuren Safvet Pascha's in Trape¬
zunt von Ende 1874 bis März 1875, von da ab in der Provinz Adona, dem
alten Kilikien, verfolgt bis zu seiner reich verdienten Absetzung. Dann folgen
die armenischen Provinzen, wo die Verwaltung geradezu einen selbstmörderischen
Charakter hatte, namentlich durch die Nachsicht gegen die gewaltrhätigen und
im Kriegsfall doch nicht einmal zuverlässigen Kurden. Von den syrischen
Provinzen Aleppo, Damaskus und Jerusalem wird nachgewiesen, in welchem
Maße der dort wüthende religiöse Sektenhaß und die frechen und straflosen
Raubzüge der Beduinen das Land verödet und entvölkert haben. Drei Dörfern
im Antilibanon sind in 2Vz Jahren vom August 1875 zurückgerechnet, allein
7680 Ziegen und Schafe, 55 Kameele und 32 Esel geraubt worden! -- Den
Schluß dieser Umschau bilden einige zuverlässige Nothschreie aus der entlegenste"
Provinz des Reiches, Jemen, die erst 1872 und 73 erobert wurde. -- Und


gehaust. In Voraussicht der schweren Zeit hatten schon zuvor massenhafte
Auswanderungen nach Aegypten und Smyrna stattgefunden. Von 50,000
Köpfen ist die muhammedcinische Bevölkerung auf 20,000 gesunken. Mächtig
regt sich das Selbstbewußtsein und der Unabhängigkeitssinn der griechisch
redenden Cyprioten. Längst weiß griechische List das lächerliche Verbot, daß
ein Nicht-Muhammedaner Eigenthümer eines Fahrzeuges, selbst nicht eines
Nachens werden darf, zu umgehen. — Nicht besser wird Mytilene verwaltet. Der
ehemals treffliche Hafen, zu dessen Ausbaggerung ans eigene Kosten die Einwohner
sich seit 25 Jahren wiederholt erboten, ist so weit versandet, daß Dampfer dort nicht
mehr anlegen können. Man hat endlich Baggerschisfe gesandt; aber ohne eine
Schaufel Schlamm heraufzuholen, sind sie nach mehreren Monaten Aufenthalt
wieder abgesegelt. Dafür ist die Anwesenheit der Regierung bei Erpressung
von ganz willkürlichen Zöllen und Abgaben, z. B. einem Ortszuschlag von
30 Pfennigen ans jeden Brief, sehr bemeklich. — In Manissa (dem alten
NgKQosia. act Lip^tuo) kamen noch im Sommer 1873 nach dem Amtsblatt
täglich im Durchschnitt vier bis fünf Mordthaten in der Stadt selbst vor.
Der klassische Despot, unter welchem dieses Maaß von öffentlicher Sicherheit
erreicht wurde, Mustafa Bey, befand sich zwar einige Monate später, unter
der Anklage einer Reihe der schwersten Amtsverbrechen, in Hast. Aber sein
Prozeß ist, wie meist in solchen Fällen, in aller Stille niedergeschlagen worden.
Eine ebenso beneidenswerthe Gegeud muß etwa um dieselbe Zeit Trapezunt
gewesen sein. Hier hatte eine einzige Familie, bestehend aus Vater, sechs
Söhnen und einer Tochter, 235 Mordthaten begangen, ehe die Behörde sich
entschloß, gegen die Uebelthäter einzuschreiten. Nach vierjährigen Prozeß wurden
zwei Glieder der sauberen Familie im Frühjahr 1874 gehängt. Die übrigen
befinden sich noch heute auf freiem Fuße.

Eingehend werden dann die traurigen Spuren Safvet Pascha's in Trape¬
zunt von Ende 1874 bis März 1875, von da ab in der Provinz Adona, dem
alten Kilikien, verfolgt bis zu seiner reich verdienten Absetzung. Dann folgen
die armenischen Provinzen, wo die Verwaltung geradezu einen selbstmörderischen
Charakter hatte, namentlich durch die Nachsicht gegen die gewaltrhätigen und
im Kriegsfall doch nicht einmal zuverlässigen Kurden. Von den syrischen
Provinzen Aleppo, Damaskus und Jerusalem wird nachgewiesen, in welchem
Maße der dort wüthende religiöse Sektenhaß und die frechen und straflosen
Raubzüge der Beduinen das Land verödet und entvölkert haben. Drei Dörfern
im Antilibanon sind in 2Vz Jahren vom August 1875 zurückgerechnet, allein
7680 Ziegen und Schafe, 55 Kameele und 32 Esel geraubt worden! — Den
Schluß dieser Umschau bilden einige zuverlässige Nothschreie aus der entlegenste»
Provinz des Reiches, Jemen, die erst 1872 und 73 erobert wurde. — Und


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[0478] gehaust. In Voraussicht der schweren Zeit hatten schon zuvor massenhafte Auswanderungen nach Aegypten und Smyrna stattgefunden. Von 50,000 Köpfen ist die muhammedcinische Bevölkerung auf 20,000 gesunken. Mächtig regt sich das Selbstbewußtsein und der Unabhängigkeitssinn der griechisch redenden Cyprioten. Längst weiß griechische List das lächerliche Verbot, daß ein Nicht-Muhammedaner Eigenthümer eines Fahrzeuges, selbst nicht eines Nachens werden darf, zu umgehen. — Nicht besser wird Mytilene verwaltet. Der ehemals treffliche Hafen, zu dessen Ausbaggerung ans eigene Kosten die Einwohner sich seit 25 Jahren wiederholt erboten, ist so weit versandet, daß Dampfer dort nicht mehr anlegen können. Man hat endlich Baggerschisfe gesandt; aber ohne eine Schaufel Schlamm heraufzuholen, sind sie nach mehreren Monaten Aufenthalt wieder abgesegelt. Dafür ist die Anwesenheit der Regierung bei Erpressung von ganz willkürlichen Zöllen und Abgaben, z. B. einem Ortszuschlag von 30 Pfennigen ans jeden Brief, sehr bemeklich. — In Manissa (dem alten NgKQosia. act Lip^tuo) kamen noch im Sommer 1873 nach dem Amtsblatt täglich im Durchschnitt vier bis fünf Mordthaten in der Stadt selbst vor. Der klassische Despot, unter welchem dieses Maaß von öffentlicher Sicherheit erreicht wurde, Mustafa Bey, befand sich zwar einige Monate später, unter der Anklage einer Reihe der schwersten Amtsverbrechen, in Hast. Aber sein Prozeß ist, wie meist in solchen Fällen, in aller Stille niedergeschlagen worden. Eine ebenso beneidenswerthe Gegeud muß etwa um dieselbe Zeit Trapezunt gewesen sein. Hier hatte eine einzige Familie, bestehend aus Vater, sechs Söhnen und einer Tochter, 235 Mordthaten begangen, ehe die Behörde sich entschloß, gegen die Uebelthäter einzuschreiten. Nach vierjährigen Prozeß wurden zwei Glieder der sauberen Familie im Frühjahr 1874 gehängt. Die übrigen befinden sich noch heute auf freiem Fuße. Eingehend werden dann die traurigen Spuren Safvet Pascha's in Trape¬ zunt von Ende 1874 bis März 1875, von da ab in der Provinz Adona, dem alten Kilikien, verfolgt bis zu seiner reich verdienten Absetzung. Dann folgen die armenischen Provinzen, wo die Verwaltung geradezu einen selbstmörderischen Charakter hatte, namentlich durch die Nachsicht gegen die gewaltrhätigen und im Kriegsfall doch nicht einmal zuverlässigen Kurden. Von den syrischen Provinzen Aleppo, Damaskus und Jerusalem wird nachgewiesen, in welchem Maße der dort wüthende religiöse Sektenhaß und die frechen und straflosen Raubzüge der Beduinen das Land verödet und entvölkert haben. Drei Dörfern im Antilibanon sind in 2Vz Jahren vom August 1875 zurückgerechnet, allein 7680 Ziegen und Schafe, 55 Kameele und 32 Esel geraubt worden! — Den Schluß dieser Umschau bilden einige zuverlässige Nothschreie aus der entlegenste» Provinz des Reiches, Jemen, die erst 1872 und 73 erobert wurde. — Und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/478>, abgerufen am 22.07.2024.