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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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gepreßte Beute. Aber da auch in der Türkei sich der Landmann dieses "Pracht¬
stück von Büberei", das übrigens nach und nach in allen Provinzen des
türkischen Reiches aufgeführt wurde, uur einmal bieten ließ, so beschränkte er
fortan seinen Anbau auf dasjenige Quantum, welches unumgänglich nöthig
war, um die Seinigen zu ernähren, die Steuern zu bezahlen und die unent¬
behrlichsten Bedürfnisse zu erwerben. Damit verfiel der Anbau in Ländern,
die sonst an Reichthum des Bodens und Fülle der Naturprodukte ihres Gleichen
auf der weiten Erde suchen, in so rapider und trostloser Weise, daß schon im
Jahre 1873 in den getreidereichen inneren Provinzen Kleinasiens -- Angora,
Jozgad, Kaisarie, Koula -- eine zweijährige Hungersnoth ausbrach, deren
grauenvollen Einzelheiten der Verfasser an einer späteren Stelle eine besondere
Abhandlung widmet. Furchtbar hat sich diese Mißwirthschaft namentlich in
Kleinasien im gegenwärtigen Kriege gerächt. Der rasche Fall der festen türki¬
schen Plätze von der russischen Grenze bis Erzerum, der Festen Ardehan und
Bajezid und Kars erklärt sich hauptsächlich aus dem landesüblichen Getreide¬
mangel.

Weniger ruchlos, aber einer ebenso kindischen Volkswirthschaft angehörig,
ist das Mittel, welches der Vali anzuwenden Pflegt, wenn er sich den entfes¬
selten Elementarereignissen, Dürre, Heuschrecken, Ueberschwemmungen, Hagel¬
schlag und dergl.) ohnmächtig gegenübersteht. Dann wird der nark ausge¬
schrieben, d. h. ein Maximalverkanfspreis festgesetzt für alle Nahrungsmittel
und Lebensbedürfnisse an Holz, Kohlen, Oel, Kerzen u. s. w. Unsern Lesern
brauchen wir nicht zu beweisen, daß der nark einfach zum Fluche der Provinz
gereicht, die er aus schlimmer Lage erretten soll. Den" jeder Besitzer von
Vorräthen schließt entweder sofort seine Bude zu oder verschifft seiue Waaren
an einen andern Markt, wo bessere Preise bezahlt werden.

Nachdem diese allgemeinen Grundsätze der Mißwirthschaft der Vali dar¬
gelegt sind, geht der Verfasser über zu den einzelnen Provinzen. Er meint,
daß die europäischen Provinzen weit weniger leiden, als die anatolischen, weil
die Christen an ihren Patriarchen, die zahlreichen Fremden und Glaubensge¬
nossen an ihren diplomatischen Vertretern in Konstantinopel eiuen kräftigen
Rückhalt finden, die Bewohner dieser Provinzen überhaupt mehr Selbstgefühl
besitzen, als die rein türkische Race in Anatolien. Wenn das wahr ist -- und
der Verfasser muß es wissen, denu Midhat Pascha herrschte eine Zeitlang als
Vali im Vilajet von Adrianopel -- dann können wir uns in der That die
traurige Lage der rein türkischen Provinzen kaum vorstellen -- denn sckM
die europäischen haben es schlechter unter dem Halbmond, als irgend ein anderes
Land in Europa. Es ist das eines jener naiver Zugestündnisse des Buches,
an denen dasselbe so reich ist, und trotz deren es die schon ausgesprochene


gepreßte Beute. Aber da auch in der Türkei sich der Landmann dieses „Pracht¬
stück von Büberei", das übrigens nach und nach in allen Provinzen des
türkischen Reiches aufgeführt wurde, uur einmal bieten ließ, so beschränkte er
fortan seinen Anbau auf dasjenige Quantum, welches unumgänglich nöthig
war, um die Seinigen zu ernähren, die Steuern zu bezahlen und die unent¬
behrlichsten Bedürfnisse zu erwerben. Damit verfiel der Anbau in Ländern,
die sonst an Reichthum des Bodens und Fülle der Naturprodukte ihres Gleichen
auf der weiten Erde suchen, in so rapider und trostloser Weise, daß schon im
Jahre 1873 in den getreidereichen inneren Provinzen Kleinasiens — Angora,
Jozgad, Kaisarie, Koula — eine zweijährige Hungersnoth ausbrach, deren
grauenvollen Einzelheiten der Verfasser an einer späteren Stelle eine besondere
Abhandlung widmet. Furchtbar hat sich diese Mißwirthschaft namentlich in
Kleinasien im gegenwärtigen Kriege gerächt. Der rasche Fall der festen türki¬
schen Plätze von der russischen Grenze bis Erzerum, der Festen Ardehan und
Bajezid und Kars erklärt sich hauptsächlich aus dem landesüblichen Getreide¬
mangel.

Weniger ruchlos, aber einer ebenso kindischen Volkswirthschaft angehörig,
ist das Mittel, welches der Vali anzuwenden Pflegt, wenn er sich den entfes¬
selten Elementarereignissen, Dürre, Heuschrecken, Ueberschwemmungen, Hagel¬
schlag und dergl.) ohnmächtig gegenübersteht. Dann wird der nark ausge¬
schrieben, d. h. ein Maximalverkanfspreis festgesetzt für alle Nahrungsmittel
und Lebensbedürfnisse an Holz, Kohlen, Oel, Kerzen u. s. w. Unsern Lesern
brauchen wir nicht zu beweisen, daß der nark einfach zum Fluche der Provinz
gereicht, die er aus schlimmer Lage erretten soll. Den» jeder Besitzer von
Vorräthen schließt entweder sofort seine Bude zu oder verschifft seiue Waaren
an einen andern Markt, wo bessere Preise bezahlt werden.

Nachdem diese allgemeinen Grundsätze der Mißwirthschaft der Vali dar¬
gelegt sind, geht der Verfasser über zu den einzelnen Provinzen. Er meint,
daß die europäischen Provinzen weit weniger leiden, als die anatolischen, weil
die Christen an ihren Patriarchen, die zahlreichen Fremden und Glaubensge¬
nossen an ihren diplomatischen Vertretern in Konstantinopel eiuen kräftigen
Rückhalt finden, die Bewohner dieser Provinzen überhaupt mehr Selbstgefühl
besitzen, als die rein türkische Race in Anatolien. Wenn das wahr ist — und
der Verfasser muß es wissen, denu Midhat Pascha herrschte eine Zeitlang als
Vali im Vilajet von Adrianopel — dann können wir uns in der That die
traurige Lage der rein türkischen Provinzen kaum vorstellen — denn sckM
die europäischen haben es schlechter unter dem Halbmond, als irgend ein anderes
Land in Europa. Es ist das eines jener naiver Zugestündnisse des Buches,
an denen dasselbe so reich ist, und trotz deren es die schon ausgesprochene


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[0476] gepreßte Beute. Aber da auch in der Türkei sich der Landmann dieses „Pracht¬ stück von Büberei", das übrigens nach und nach in allen Provinzen des türkischen Reiches aufgeführt wurde, uur einmal bieten ließ, so beschränkte er fortan seinen Anbau auf dasjenige Quantum, welches unumgänglich nöthig war, um die Seinigen zu ernähren, die Steuern zu bezahlen und die unent¬ behrlichsten Bedürfnisse zu erwerben. Damit verfiel der Anbau in Ländern, die sonst an Reichthum des Bodens und Fülle der Naturprodukte ihres Gleichen auf der weiten Erde suchen, in so rapider und trostloser Weise, daß schon im Jahre 1873 in den getreidereichen inneren Provinzen Kleinasiens — Angora, Jozgad, Kaisarie, Koula — eine zweijährige Hungersnoth ausbrach, deren grauenvollen Einzelheiten der Verfasser an einer späteren Stelle eine besondere Abhandlung widmet. Furchtbar hat sich diese Mißwirthschaft namentlich in Kleinasien im gegenwärtigen Kriege gerächt. Der rasche Fall der festen türki¬ schen Plätze von der russischen Grenze bis Erzerum, der Festen Ardehan und Bajezid und Kars erklärt sich hauptsächlich aus dem landesüblichen Getreide¬ mangel. Weniger ruchlos, aber einer ebenso kindischen Volkswirthschaft angehörig, ist das Mittel, welches der Vali anzuwenden Pflegt, wenn er sich den entfes¬ selten Elementarereignissen, Dürre, Heuschrecken, Ueberschwemmungen, Hagel¬ schlag und dergl.) ohnmächtig gegenübersteht. Dann wird der nark ausge¬ schrieben, d. h. ein Maximalverkanfspreis festgesetzt für alle Nahrungsmittel und Lebensbedürfnisse an Holz, Kohlen, Oel, Kerzen u. s. w. Unsern Lesern brauchen wir nicht zu beweisen, daß der nark einfach zum Fluche der Provinz gereicht, die er aus schlimmer Lage erretten soll. Den» jeder Besitzer von Vorräthen schließt entweder sofort seine Bude zu oder verschifft seiue Waaren an einen andern Markt, wo bessere Preise bezahlt werden. Nachdem diese allgemeinen Grundsätze der Mißwirthschaft der Vali dar¬ gelegt sind, geht der Verfasser über zu den einzelnen Provinzen. Er meint, daß die europäischen Provinzen weit weniger leiden, als die anatolischen, weil die Christen an ihren Patriarchen, die zahlreichen Fremden und Glaubensge¬ nossen an ihren diplomatischen Vertretern in Konstantinopel eiuen kräftigen Rückhalt finden, die Bewohner dieser Provinzen überhaupt mehr Selbstgefühl besitzen, als die rein türkische Race in Anatolien. Wenn das wahr ist — und der Verfasser muß es wissen, denu Midhat Pascha herrschte eine Zeitlang als Vali im Vilajet von Adrianopel — dann können wir uns in der That die traurige Lage der rein türkischen Provinzen kaum vorstellen — denn sckM die europäischen haben es schlechter unter dem Halbmond, als irgend ein anderes Land in Europa. Es ist das eines jener naiver Zugestündnisse des Buches, an denen dasselbe so reich ist, und trotz deren es die schon ausgesprochene

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/476>, abgerufen am 22.07.2024.