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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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mit ihren gemüthlich patriarchalischen Verhältnissen so idyllisch schön, daß ihr
gegenüber der fröstelnd kalte "Unterstützungswohnsitz" als ein förmliches Scheusal
für den mit Herz und Gemüth ausgestatteten Menschen erscheint. Die Frei¬
zügigkeit soll beschränkt werden, damit der Arbeiter nicht etwa aus Genußsucht (!)
in die Städte weglaufe, sondern hübsch konservativ in seiner angestammten
Gemeinde als Knecht und Taglöhner das Feld bebaue, eine Arbeit, die seine
Väter und Großväter ja auch gethan und bei der sie sich ganz wohl befunden
haben! Wir können verstehen, wie einzelne wohlmeinende Leute der Ansicht
sein mögen, als sei durch Wiedereinführung der alten Wuchergesetze die von
gewissenlosen Geldmännern systematisch betriebene Ausbeutung finanziell ge¬
drückter Volkskreise mit einem Schlage zu beseitigen. Wir gehen nicht allzu
strenge ins Gericht mit jenen, welchen die Rückkehr zum alten Zunftzwang das
unfehlbare Heilmittel dünkt, die gewerblichen Schäden der Gegenwart binnen
kürzester Frist zu heilen. Den meisten Vertretern solcher Anschauungen fehlt
der weite, umfassende Blick, das tiefeindringende Verständniß der im Lauf der
Jahre mit absoluter innerer Nothwendigkeit so wie sie jetzt liegen gestalteten
Verhältnisse. Besäßen sie jenen Blick und dieses Verständniß, so müßten sie
sich sagen, daß trotz der Wuchergesetze die gerügte Ausbeutung einzelner Volks¬
klassen in früheren Zeiten eben so lebhaft, ja vielleicht noch lebhafter im
Schwunge war, als sie es jetzt ist. Und weiß man gar nichts von den großen
Schäden, die der frühere Zunftzwang gebracht hat? und ist es durchaus un¬
bekannt, wie die tiefsten Ursachen der gewerblichen Schäden unserer Tage nicht
in der Beseitigung dieser überlebten Institution, sondern in ganz anderen
Faktoren enthalten sind? Die alte "Heimathgemeinde" war nicht immer so
idyllisch schön, namentlich nicht für den Unglücklichen, der, als Knabe wegge¬
zogen, im Alter vielleicht schuldlos wirthschaftlich ruinirt, von der Stadt, in
der er seine Arbeitskraft redlich verbraucht hatte, Mit Weib und Kindern der
"lieben Heimath" zugeschoben wurde. Und die vielgerühmte "Schollenhörig¬
keit" früherer Tage, sie hat gewiß Manchen in soliden Schränken der einfach
ländlichen Lebensweise festgehalten. Es ist aber damit nicht bewiesen, daß
Solche, wären sie als Arbeiter nach der Stadt weggezogen, dort ihre Verhält¬
nisse minder solid gestaltet haben würden, ja daß sie mit der dortigen Ver¬
werthung ihrer Arbeitskraft sich nicht vielleicht ein finanziell weit besseres Loos
errungen haben würden. Die Freizügigkeit ist ein deutsches Grundrecht und
darf nimmermehr angetastet werden. Keiner, am allerwenigsten aber der minder
Besitzende, darf gehindert werden, seine wirthschaftliche Arbeitskraft dorthin zu
tragen, wo er sich von ihrer Verwerthung den relativ größten Vortheil ver¬
sprechen muß. Dieser, dem ureigenste" Naturrecht entnommene Grundsatz ist
zur Geltung gelaugt; nur ein Akt der brutalsten Revolution könnte ihn hin-


mit ihren gemüthlich patriarchalischen Verhältnissen so idyllisch schön, daß ihr
gegenüber der fröstelnd kalte „Unterstützungswohnsitz" als ein förmliches Scheusal
für den mit Herz und Gemüth ausgestatteten Menschen erscheint. Die Frei¬
zügigkeit soll beschränkt werden, damit der Arbeiter nicht etwa aus Genußsucht (!)
in die Städte weglaufe, sondern hübsch konservativ in seiner angestammten
Gemeinde als Knecht und Taglöhner das Feld bebaue, eine Arbeit, die seine
Väter und Großväter ja auch gethan und bei der sie sich ganz wohl befunden
haben! Wir können verstehen, wie einzelne wohlmeinende Leute der Ansicht
sein mögen, als sei durch Wiedereinführung der alten Wuchergesetze die von
gewissenlosen Geldmännern systematisch betriebene Ausbeutung finanziell ge¬
drückter Volkskreise mit einem Schlage zu beseitigen. Wir gehen nicht allzu
strenge ins Gericht mit jenen, welchen die Rückkehr zum alten Zunftzwang das
unfehlbare Heilmittel dünkt, die gewerblichen Schäden der Gegenwart binnen
kürzester Frist zu heilen. Den meisten Vertretern solcher Anschauungen fehlt
der weite, umfassende Blick, das tiefeindringende Verständniß der im Lauf der
Jahre mit absoluter innerer Nothwendigkeit so wie sie jetzt liegen gestalteten
Verhältnisse. Besäßen sie jenen Blick und dieses Verständniß, so müßten sie
sich sagen, daß trotz der Wuchergesetze die gerügte Ausbeutung einzelner Volks¬
klassen in früheren Zeiten eben so lebhaft, ja vielleicht noch lebhafter im
Schwunge war, als sie es jetzt ist. Und weiß man gar nichts von den großen
Schäden, die der frühere Zunftzwang gebracht hat? und ist es durchaus un¬
bekannt, wie die tiefsten Ursachen der gewerblichen Schäden unserer Tage nicht
in der Beseitigung dieser überlebten Institution, sondern in ganz anderen
Faktoren enthalten sind? Die alte „Heimathgemeinde" war nicht immer so
idyllisch schön, namentlich nicht für den Unglücklichen, der, als Knabe wegge¬
zogen, im Alter vielleicht schuldlos wirthschaftlich ruinirt, von der Stadt, in
der er seine Arbeitskraft redlich verbraucht hatte, Mit Weib und Kindern der
»lieben Heimath" zugeschoben wurde. Und die vielgerühmte „Schollenhörig¬
keit" früherer Tage, sie hat gewiß Manchen in soliden Schränken der einfach
ländlichen Lebensweise festgehalten. Es ist aber damit nicht bewiesen, daß
Solche, wären sie als Arbeiter nach der Stadt weggezogen, dort ihre Verhält¬
nisse minder solid gestaltet haben würden, ja daß sie mit der dortigen Ver¬
werthung ihrer Arbeitskraft sich nicht vielleicht ein finanziell weit besseres Loos
errungen haben würden. Die Freizügigkeit ist ein deutsches Grundrecht und
darf nimmermehr angetastet werden. Keiner, am allerwenigsten aber der minder
Besitzende, darf gehindert werden, seine wirthschaftliche Arbeitskraft dorthin zu
tragen, wo er sich von ihrer Verwerthung den relativ größten Vortheil ver¬
sprechen muß. Dieser, dem ureigenste» Naturrecht entnommene Grundsatz ist
zur Geltung gelaugt; nur ein Akt der brutalsten Revolution könnte ihn hin-


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[0047] mit ihren gemüthlich patriarchalischen Verhältnissen so idyllisch schön, daß ihr gegenüber der fröstelnd kalte „Unterstützungswohnsitz" als ein förmliches Scheusal für den mit Herz und Gemüth ausgestatteten Menschen erscheint. Die Frei¬ zügigkeit soll beschränkt werden, damit der Arbeiter nicht etwa aus Genußsucht (!) in die Städte weglaufe, sondern hübsch konservativ in seiner angestammten Gemeinde als Knecht und Taglöhner das Feld bebaue, eine Arbeit, die seine Väter und Großväter ja auch gethan und bei der sie sich ganz wohl befunden haben! Wir können verstehen, wie einzelne wohlmeinende Leute der Ansicht sein mögen, als sei durch Wiedereinführung der alten Wuchergesetze die von gewissenlosen Geldmännern systematisch betriebene Ausbeutung finanziell ge¬ drückter Volkskreise mit einem Schlage zu beseitigen. Wir gehen nicht allzu strenge ins Gericht mit jenen, welchen die Rückkehr zum alten Zunftzwang das unfehlbare Heilmittel dünkt, die gewerblichen Schäden der Gegenwart binnen kürzester Frist zu heilen. Den meisten Vertretern solcher Anschauungen fehlt der weite, umfassende Blick, das tiefeindringende Verständniß der im Lauf der Jahre mit absoluter innerer Nothwendigkeit so wie sie jetzt liegen gestalteten Verhältnisse. Besäßen sie jenen Blick und dieses Verständniß, so müßten sie sich sagen, daß trotz der Wuchergesetze die gerügte Ausbeutung einzelner Volks¬ klassen in früheren Zeiten eben so lebhaft, ja vielleicht noch lebhafter im Schwunge war, als sie es jetzt ist. Und weiß man gar nichts von den großen Schäden, die der frühere Zunftzwang gebracht hat? und ist es durchaus un¬ bekannt, wie die tiefsten Ursachen der gewerblichen Schäden unserer Tage nicht in der Beseitigung dieser überlebten Institution, sondern in ganz anderen Faktoren enthalten sind? Die alte „Heimathgemeinde" war nicht immer so idyllisch schön, namentlich nicht für den Unglücklichen, der, als Knabe wegge¬ zogen, im Alter vielleicht schuldlos wirthschaftlich ruinirt, von der Stadt, in der er seine Arbeitskraft redlich verbraucht hatte, Mit Weib und Kindern der »lieben Heimath" zugeschoben wurde. Und die vielgerühmte „Schollenhörig¬ keit" früherer Tage, sie hat gewiß Manchen in soliden Schränken der einfach ländlichen Lebensweise festgehalten. Es ist aber damit nicht bewiesen, daß Solche, wären sie als Arbeiter nach der Stadt weggezogen, dort ihre Verhält¬ nisse minder solid gestaltet haben würden, ja daß sie mit der dortigen Ver¬ werthung ihrer Arbeitskraft sich nicht vielleicht ein finanziell weit besseres Loos errungen haben würden. Die Freizügigkeit ist ein deutsches Grundrecht und darf nimmermehr angetastet werden. Keiner, am allerwenigsten aber der minder Besitzende, darf gehindert werden, seine wirthschaftliche Arbeitskraft dorthin zu tragen, wo er sich von ihrer Verwerthung den relativ größten Vortheil ver¬ sprechen muß. Dieser, dem ureigenste» Naturrecht entnommene Grundsatz ist zur Geltung gelaugt; nur ein Akt der brutalsten Revolution könnte ihn hin-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/47>, abgerufen am 22.07.2024.