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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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unermüdliche Betheiligung am politischen Leben des heutigen Staats eine so
compakte Majorität für sich gewinnen, daß sie eines schönen Tages kurzer
Hand alles Bestehende umstürzen können, während die Bakunisten durch ihre
unaufhörlichen Putsche, von denen sie beiläufig versicherten, daß es gar keine
ernsthaften Revolutionsversuche, sondern nur Akte der Propaganda lo tÄt.
sein sollen, das "werkthätige" Volk an das Feuer gewöhnen wollen, um sich
eine erprobte und schlagfertige Armee zu drillen. Wieder war die gegenseitige
Kritik höchst treffend. Die Bakunisten sagten: "Judem ihr euch auf den Boden
der heutigen Ordnung stellt, wenn auch nur um sie zu bekämpfen, erkennt
ihr sie implicite an und verletzt die revolutionäre Reinheit des Prinzips."
Namentlich wurde den deutschen Sozialdemokraten zum Vorwurfe gemacht,
daß sie um des Stimmenfangs bei den Wahlen willen ihre eigentlichen Ziele
verhüllten, was Liebknecht zwar zu heftigen Zornesausbrüchen reizte, aber nichts¬
destoweniger in der Wahrheit begründet ist. Die Marxisten aber erwiderten:
"Alle Tyrannen und Reaktionäre füllen euch die Taschen mit Gold, der letzte
Rest von Freiheit wird vernichtet, wenn ihr den Pulses zu einer stehenden
Institution in Europa macht." Auch hier siegten die Marxisten in einer Re¬
solution, welche erklärt, daß das als Partei organisirte Proletariat alle poli¬
tischen Mittel anwenden müsse, um zur sozialen Emancipation zu gelangen.

Natürlich kam es bei solchen Differenzen zu keinerlei "Versöhnung".
Man mußte sich mit einer Resolution begnügen, worin sich beide Parteien
"jenen gegenseitigen Respekt" versicherten, "welchen sich Männer schulden, die
das Gefühl und die Ueberzeugung ihrer Würde und die Ueberzeugung von
ihrer Ehrlichkeit haben." Dagegen schlossen die marxistischen Delegirten einen
"Solidaritätspakt" ab, der in Kürze die Grundsätze der früheren Internationalen
wiederholt, Grundsätze, die auch im Gothaer Programm der deutschen Sozial¬
demokratie formulirt sind und sich dahin zusammen fassen lassen, daß der
sozialistische Staat im gesellschaftlichen Gemeineigenthum am Grund und Boden,
sowie an allen Arbeitswerkzeugen basire und daß er allem zu erreichen sei
durch das einmüthige Zusammenwirken aller Arbeiter aller Länder, welchem
Bunde gegenüber alle andern Parteien nur eine "reaktionäre Masse" bilden.
Auf Grund dieses Pales wurde eine "Allgemeine Union des internationalen
Sozialismus" beschlossen, die sich demnächst in einem beiläufig ans absolut
unbekannten Leuten bestehenden Bureau zu Gent konstituirte und ein "Manifest
an die sozialistischen Arbeiterorganisationen Englands, Frankreichs, Belgiens,
Dänemarks, Deutschlands, Oesterreich-Ungarns, der Schweiz und Italiens"
erließ. In diesem Aufrufe wurde ausdrücklich die "politische Enthaltung" ver-
vehmt und als maßgebendes Muster die Taktik der deutschen Sozialdemokratie


unermüdliche Betheiligung am politischen Leben des heutigen Staats eine so
compakte Majorität für sich gewinnen, daß sie eines schönen Tages kurzer
Hand alles Bestehende umstürzen können, während die Bakunisten durch ihre
unaufhörlichen Putsche, von denen sie beiläufig versicherten, daß es gar keine
ernsthaften Revolutionsversuche, sondern nur Akte der Propaganda lo tÄt.
sein sollen, das „werkthätige" Volk an das Feuer gewöhnen wollen, um sich
eine erprobte und schlagfertige Armee zu drillen. Wieder war die gegenseitige
Kritik höchst treffend. Die Bakunisten sagten: „Judem ihr euch auf den Boden
der heutigen Ordnung stellt, wenn auch nur um sie zu bekämpfen, erkennt
ihr sie implicite an und verletzt die revolutionäre Reinheit des Prinzips."
Namentlich wurde den deutschen Sozialdemokraten zum Vorwurfe gemacht,
daß sie um des Stimmenfangs bei den Wahlen willen ihre eigentlichen Ziele
verhüllten, was Liebknecht zwar zu heftigen Zornesausbrüchen reizte, aber nichts¬
destoweniger in der Wahrheit begründet ist. Die Marxisten aber erwiderten:
„Alle Tyrannen und Reaktionäre füllen euch die Taschen mit Gold, der letzte
Rest von Freiheit wird vernichtet, wenn ihr den Pulses zu einer stehenden
Institution in Europa macht." Auch hier siegten die Marxisten in einer Re¬
solution, welche erklärt, daß das als Partei organisirte Proletariat alle poli¬
tischen Mittel anwenden müsse, um zur sozialen Emancipation zu gelangen.

Natürlich kam es bei solchen Differenzen zu keinerlei „Versöhnung".
Man mußte sich mit einer Resolution begnügen, worin sich beide Parteien
„jenen gegenseitigen Respekt" versicherten, „welchen sich Männer schulden, die
das Gefühl und die Ueberzeugung ihrer Würde und die Ueberzeugung von
ihrer Ehrlichkeit haben." Dagegen schlossen die marxistischen Delegirten einen
„Solidaritätspakt" ab, der in Kürze die Grundsätze der früheren Internationalen
wiederholt, Grundsätze, die auch im Gothaer Programm der deutschen Sozial¬
demokratie formulirt sind und sich dahin zusammen fassen lassen, daß der
sozialistische Staat im gesellschaftlichen Gemeineigenthum am Grund und Boden,
sowie an allen Arbeitswerkzeugen basire und daß er allem zu erreichen sei
durch das einmüthige Zusammenwirken aller Arbeiter aller Länder, welchem
Bunde gegenüber alle andern Parteien nur eine „reaktionäre Masse" bilden.
Auf Grund dieses Pales wurde eine „Allgemeine Union des internationalen
Sozialismus" beschlossen, die sich demnächst in einem beiläufig ans absolut
unbekannten Leuten bestehenden Bureau zu Gent konstituirte und ein „Manifest
an die sozialistischen Arbeiterorganisationen Englands, Frankreichs, Belgiens,
Dänemarks, Deutschlands, Oesterreich-Ungarns, der Schweiz und Italiens"
erließ. In diesem Aufrufe wurde ausdrücklich die „politische Enthaltung" ver-
vehmt und als maßgebendes Muster die Taktik der deutschen Sozialdemokratie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/450>, abgerufen am 27.07.2024.