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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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modernen Communismus. Er nennt heute griiu, was er gestern blau nannte
und was er morgen roth nennen wird. Ueber jede öffentliche Frage kann
man in der sozialdemokratischen Literatur zehn verschiedene Ansichten finden, die
sich vom sanftesten Moll des Stimmenfangs bis zum grellsten Dur unfehlbarer
Gesinnungstüchtigkeit steigern. Selbst über die ersten Voraussetzungen ihrer
Pläne herrscht unter den maßgebenden Autoritäten und Organen widerspruchs¬
volle Unklarheit. Marx legt den Schwerpunkt des Systems in seine Werth¬
theorie, wonach die Arbeit allein werthbildende Substanz sein soll, während
Dühring und Schäffle in vollem Einklang mit der liberalen Oekonomie diesen
Satz als absolut hinfällig nachweisen. Der "Vorwärts", das offizielle Partei¬
organ, bewundert in jener Theorie den unumstößlichen Eckstein des Zukunfts¬
staats, während die "Zukunft", sein wissenschaftliches Schwesterblatt, "nichts
für irrthümlicher" erklärt, als dies Axiom. Eine Brochüre von Geifer fordert,
daß die Jugenderziehung von den Eltern als den natürlichen Beschützern der
Kinder geleitet werde, während eine Broschüre von Most "das angebliche Recht
der Eltern, ihre Kinder beliebig zu erziehen, einfach als freche Anmaßung"
proklamirt. Und so in wünituin; diese heulenden Widersprüche sind durchweg
an der Tagesordnung. Hier sich zurechtzufinden, in dem ewig wechselnden
Kaleidoskope die halbwegs festen Grundlinien zu erkennen, die durcheinander
schwirrenden Ansichten nach dem Gewicht der Gründe, mit welchen, nach der
Autorität der Personen, von welchen sie verfochten werden, zu werthen und
darnach den geistigen Gehalt in dem ganzen Treiben richtig abzuwügeu, ist
eine Aufgabe, welche zu löse" nicht einmal jedem Politiker von Fach, geschweige
jedem patriotischen Wähler möglich ist. Denn sie ist nicht nur unerquicklich
und widerwärtig, sondern zugleich in höchstem Grade zeitraubend; wenn auch
in keinem andern Punkte, so beweist die Sozialdemokratie wenigstens in der
Hervorbringung von Makulatur eine Produktionsfähigkeit, vor welcher die
heutige Ordnung beschämt die Segel streichen muß. Uuter solchen Umständen
mag es vielleicht nützlich sein, von Zeit zu Zeit das Strombette der Bewegung
nach den Spuren zu untersuchen, welche der agitatorische Tagesschlamm hinter¬
lassen hat, in gemessenen Zwischenräumen eine Rechnung des augenblicklichen
Parteistandes aufzumachen nach seinen bleibenderen und tieferen Gestaltungen,
wie es die Absicht dieser anspruchslosen Chronik ist.

Seit dem Gothaer Vereinigungskvugresse bilden die letzten Reichstagswahlen
den erstren, tieferen Einschnitt in der Geschichte der deutschen Svzialdemokrcitie.
Ihre Wahlsiege riefen zwei Strömungen,' wach, die im Laufe dieses Jahres
immer deutlicher erkennbar hervortraten: einerseits einen geistigen Niedergang,
ein immer stärkeres Zerfließen und Verschwimmen des Parteiprinzips, soweit
von einem solchen überall noch die Rede sein konnte, andererseits wiederum


modernen Communismus. Er nennt heute griiu, was er gestern blau nannte
und was er morgen roth nennen wird. Ueber jede öffentliche Frage kann
man in der sozialdemokratischen Literatur zehn verschiedene Ansichten finden, die
sich vom sanftesten Moll des Stimmenfangs bis zum grellsten Dur unfehlbarer
Gesinnungstüchtigkeit steigern. Selbst über die ersten Voraussetzungen ihrer
Pläne herrscht unter den maßgebenden Autoritäten und Organen widerspruchs¬
volle Unklarheit. Marx legt den Schwerpunkt des Systems in seine Werth¬
theorie, wonach die Arbeit allein werthbildende Substanz sein soll, während
Dühring und Schäffle in vollem Einklang mit der liberalen Oekonomie diesen
Satz als absolut hinfällig nachweisen. Der „Vorwärts", das offizielle Partei¬
organ, bewundert in jener Theorie den unumstößlichen Eckstein des Zukunfts¬
staats, während die „Zukunft", sein wissenschaftliches Schwesterblatt, „nichts
für irrthümlicher" erklärt, als dies Axiom. Eine Brochüre von Geifer fordert,
daß die Jugenderziehung von den Eltern als den natürlichen Beschützern der
Kinder geleitet werde, während eine Broschüre von Most „das angebliche Recht
der Eltern, ihre Kinder beliebig zu erziehen, einfach als freche Anmaßung"
proklamirt. Und so in wünituin; diese heulenden Widersprüche sind durchweg
an der Tagesordnung. Hier sich zurechtzufinden, in dem ewig wechselnden
Kaleidoskope die halbwegs festen Grundlinien zu erkennen, die durcheinander
schwirrenden Ansichten nach dem Gewicht der Gründe, mit welchen, nach der
Autorität der Personen, von welchen sie verfochten werden, zu werthen und
darnach den geistigen Gehalt in dem ganzen Treiben richtig abzuwügeu, ist
eine Aufgabe, welche zu löse« nicht einmal jedem Politiker von Fach, geschweige
jedem patriotischen Wähler möglich ist. Denn sie ist nicht nur unerquicklich
und widerwärtig, sondern zugleich in höchstem Grade zeitraubend; wenn auch
in keinem andern Punkte, so beweist die Sozialdemokratie wenigstens in der
Hervorbringung von Makulatur eine Produktionsfähigkeit, vor welcher die
heutige Ordnung beschämt die Segel streichen muß. Uuter solchen Umständen
mag es vielleicht nützlich sein, von Zeit zu Zeit das Strombette der Bewegung
nach den Spuren zu untersuchen, welche der agitatorische Tagesschlamm hinter¬
lassen hat, in gemessenen Zwischenräumen eine Rechnung des augenblicklichen
Parteistandes aufzumachen nach seinen bleibenderen und tieferen Gestaltungen,
wie es die Absicht dieser anspruchslosen Chronik ist.

Seit dem Gothaer Vereinigungskvugresse bilden die letzten Reichstagswahlen
den erstren, tieferen Einschnitt in der Geschichte der deutschen Svzialdemokrcitie.
Ihre Wahlsiege riefen zwei Strömungen,' wach, die im Laufe dieses Jahres
immer deutlicher erkennbar hervortraten: einerseits einen geistigen Niedergang,
ein immer stärkeres Zerfließen und Verschwimmen des Parteiprinzips, soweit
von einem solchen überall noch die Rede sein konnte, andererseits wiederum


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/446>, abgerufen am 01.09.2024.