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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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meinen Angen, wie ich ihn so reden höre. Wie manchen Städter er beschämt
- dachte ich der sich nur an den Wundern erbauen will, die aus alters¬
grauer Zeit stammend ihm zu dieser Stunde innert vier öden Mauern durch
den todten Buchstaben und das Wort des Priesters vermittelt werden, der aber
blind, der taub ist für die Wunder, die bei jedem Tritt in's Freie, im Ge¬
ringsten, was aus des Schöpfers Hand hervorgegangen, unvermittelt dem
offenen Ohre vernehmbar werden!"

Ganz anders wirken dagegen einige Führergestalten, die Weilenmann bei
seinen Fahrten über das Gepaatschjoch und im Oetzthal kennen lernte. Zuerst
die Gebrüder Johannes und Jakob Auer auf dem Riefenhof bei Gepaatsch,
nebenbei behäbige Bauern. Der eine schildert, seit er Weib und Kind hat,
jede Gletscherwauderuug als eiuen Todesgang, der andere ein kühner Gems¬
wilderer, nimmt die Büchse mit, wo ein Haltseil viel nützlicher wäre. Dann
ans den Rofenhöfen im Oetzthal die prachtvolle Schilderung einer Bauernaristv-
kratie an der Grenze des ewigen Schnees, mit Gotthelfs und Immermanns
Charakter-Bildern gleichwerthig. Stolz und vornehm sind sie die Mitglieder
der hochangesehenen Familie Klotz von den Rofenhöfen. Das hindert aber
nicht, daß Nikodemus Klotz der tüchtigste Führer der Gegend, sich ohne Zu¬
stimmung seines biedern Weibes nie eiuen Schritt zum Hause herauswagt.
Und sie hat bei jeder Versuchung der Art immer den unheilvoll geschwungenen
Rührlöffel mit den Worten zur Hand: "Daß Di nu vo koain net verfiahra
lassescht." Der "Platterbua", ein dickbäuchiger, renommistischer, trunksüchtiger
Führer, den Weilenmann wiederholt benutzen muß, ist ein böser Ersatz für den
doch bergsichern starkknochigen Pantoffelhelden Nikodemus. Viel später begegnen
wir auch in der Schweiz einem Pendant Platers, einem aufgedunsenen Burschen,
der als Träger neben dem Führer Pvllinger auf das Weißdorn mitgeht, ruhm¬
redig und vermeintlich wegesicher wie Plater, aber besonders komisch durch
seine stark ultramontanen Allüren. Wie rein und schön heben sich solchen
Figuren gegenüber die herben, einsilbigen und doch in jedem Worte wirklich führen-
den Mäuner wie P. Kurbel und P. Siegen (Aletschhorn) ab, von denen der letztere
eine Ader besitzt, die dem Schweizer sonst fast ganz abgeht, die des Histrionen.
Oben auf dem Lötschenpaß trügt er, der schlichte Führer, den erstaunten Zög¬
lingen eines Lausanner Pensionats, das er auf die Höhe geführt, ganze Stücke
ans Schillers Tell vor! Wenn wir schließlich noch darauf hinweisen, daß
das Wirken der Mädchen und Frauen des Hochgebirges in gleicher Mannig¬
faltigkeit und Naturtreue geschildert ist, so glauben wir einige der Hauptvorzüge
eines Buches berührt zu haben, welches jedem Leser lebhafte Befriedigung ge-
währen wird.




meinen Angen, wie ich ihn so reden höre. Wie manchen Städter er beschämt
- dachte ich der sich nur an den Wundern erbauen will, die aus alters¬
grauer Zeit stammend ihm zu dieser Stunde innert vier öden Mauern durch
den todten Buchstaben und das Wort des Priesters vermittelt werden, der aber
blind, der taub ist für die Wunder, die bei jedem Tritt in's Freie, im Ge¬
ringsten, was aus des Schöpfers Hand hervorgegangen, unvermittelt dem
offenen Ohre vernehmbar werden!"

Ganz anders wirken dagegen einige Führergestalten, die Weilenmann bei
seinen Fahrten über das Gepaatschjoch und im Oetzthal kennen lernte. Zuerst
die Gebrüder Johannes und Jakob Auer auf dem Riefenhof bei Gepaatsch,
nebenbei behäbige Bauern. Der eine schildert, seit er Weib und Kind hat,
jede Gletscherwauderuug als eiuen Todesgang, der andere ein kühner Gems¬
wilderer, nimmt die Büchse mit, wo ein Haltseil viel nützlicher wäre. Dann
ans den Rofenhöfen im Oetzthal die prachtvolle Schilderung einer Bauernaristv-
kratie an der Grenze des ewigen Schnees, mit Gotthelfs und Immermanns
Charakter-Bildern gleichwerthig. Stolz und vornehm sind sie die Mitglieder
der hochangesehenen Familie Klotz von den Rofenhöfen. Das hindert aber
nicht, daß Nikodemus Klotz der tüchtigste Führer der Gegend, sich ohne Zu¬
stimmung seines biedern Weibes nie eiuen Schritt zum Hause herauswagt.
Und sie hat bei jeder Versuchung der Art immer den unheilvoll geschwungenen
Rührlöffel mit den Worten zur Hand: „Daß Di nu vo koain net verfiahra
lassescht." Der „Platterbua", ein dickbäuchiger, renommistischer, trunksüchtiger
Führer, den Weilenmann wiederholt benutzen muß, ist ein böser Ersatz für den
doch bergsichern starkknochigen Pantoffelhelden Nikodemus. Viel später begegnen
wir auch in der Schweiz einem Pendant Platers, einem aufgedunsenen Burschen,
der als Träger neben dem Führer Pvllinger auf das Weißdorn mitgeht, ruhm¬
redig und vermeintlich wegesicher wie Plater, aber besonders komisch durch
seine stark ultramontanen Allüren. Wie rein und schön heben sich solchen
Figuren gegenüber die herben, einsilbigen und doch in jedem Worte wirklich führen-
den Mäuner wie P. Kurbel und P. Siegen (Aletschhorn) ab, von denen der letztere
eine Ader besitzt, die dem Schweizer sonst fast ganz abgeht, die des Histrionen.
Oben auf dem Lötschenpaß trügt er, der schlichte Führer, den erstaunten Zög¬
lingen eines Lausanner Pensionats, das er auf die Höhe geführt, ganze Stücke
ans Schillers Tell vor! Wenn wir schließlich noch darauf hinweisen, daß
das Wirken der Mädchen und Frauen des Hochgebirges in gleicher Mannig¬
faltigkeit und Naturtreue geschildert ist, so glauben wir einige der Hauptvorzüge
eines Buches berührt zu haben, welches jedem Leser lebhafte Befriedigung ge-
währen wird.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/318>, abgerufen am 29.06.2024.