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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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den Gesetzen der Gewebeentwickelung nachzuforschen. Hier, wie überall,
ist es nicht die nackte Thatsache, welche das Endziel wissenschaftlicher Forschung
darstellt; sondern ans der Thatsache soll das Gesetz ihres Geschehens entwickelt
werden. Das erst ist wissenschaftliche Forschung.

Da wir nun die wissenschaftliche Forschung mit zu den selbstverständlichen
Pflichten des wissenschaftlichen Lehrers rechnen müssen, so darf ich hier auf
die Gefahr hinweisen, welche eine übertriebene und mißverstandene Arbeits¬
theilung der wissenschaftlichen Forschung bringen kann. Gering ist der Werth
derjenigen wissenschaftlichen Arbeit, welche nicht an die Nachbargebiete anknüpft
und sich mit ihnen einheitlich verbindet. Wie der Gesetzgeber in einem, viel¬
leicht an sich nicht schlechten Einzelgesetz einen Fehler begehen kann; wie dem
Gesetzgeber die Pflicht obliegt, alle Aufgaben der Gesetzgebung in möglichst
einfacher Form, mit thunlichst weit reichenden und umfassenden Gesetzen zu
erfüllen: so muß auch der wissenschaftliche Forscher vor allzu beschränkter Be¬
arbeitung eines allzu kleinen Gebiets sich hüten und so hat auch er die Pflicht,
seine Arbeitskräfte nicht kleinlich zu zersplittern, sondern für Erfüllung größerer
Aufgaben zusammen zu fassen. Nicht überflüssig erscheint es mir, daß ge¬
legentlich einmal an diese Pflicht erinnert werde; denn ich glaube schon heute
in schriftstellerischen Unternehmungen, deren Beurtheilung ich mir zutrauen
darf, schädliche Auswüchse einer krankhaft übertriebenen Arbeitstheilung zu er-
kennen. Daß ich in einem solchen Urtheil den Kreis der medizinischen Literatur
nicht überschreiten darf, brauche ich wohl nicht besonders zu begründen. Rich¬
tige Folgerungen auch für andere Bezirke der Literatur aus meinen Aeußerun¬
gen zu ziehen, darf ich dem zuständigen Urtheil anderer überlassen.

In der medizinischen Literatur nimmt eine besondere Art von Hand- und
Lehrbüchern einen immer breiteren Raum ein, welche ich kurz als Genvssen-
schaftslehrbücher bezeichnen will. Unter der Leitung von ein oder zwei Redakteuren
tritt eine Zahl von Schriftstellern, etwa zehn oder zwanzig zusammen, um ein
Lehr- oder Handbuch für eine wissenschaftliche Disziplin zu verfassen, z. B.
ein Handbuch der Chirurgie, ein Lehrbuch der Kinderkrankheiten u. s. w. Die
betreffende Disziplin wird in kleine Stückchen zerlegt und jeder Mitarbeiter
erhält ein oder zwei Stückchen zugewiesen, um seine Kräfte an ihnen zu erproben.
Man begreift, welch' ungeordnetes Mosaik auf diesem Wege geschaffen werden
muß, und eine einheitliche Zusammenstellung des Mosaiks Seitens der Redaktion
erweist sich einfach als Unmöglichkeit. Die einzige Einheit einer solchen
wissenschaftlichen Arbeit wird durch den Verleger geschaffen, welcher alle Theile nut
gleichem Titel versieht, dnrch den Setzer, welcher alle Theile mit gleichen
Lettern setzt, und von dem Buchbinder, welcher die Bogen zusammenordnet und
heftet. Der Inhalt ist ein Zerrbild dessen, was ein Hand- oder Lehrbuch sein


den Gesetzen der Gewebeentwickelung nachzuforschen. Hier, wie überall,
ist es nicht die nackte Thatsache, welche das Endziel wissenschaftlicher Forschung
darstellt; sondern ans der Thatsache soll das Gesetz ihres Geschehens entwickelt
werden. Das erst ist wissenschaftliche Forschung.

Da wir nun die wissenschaftliche Forschung mit zu den selbstverständlichen
Pflichten des wissenschaftlichen Lehrers rechnen müssen, so darf ich hier auf
die Gefahr hinweisen, welche eine übertriebene und mißverstandene Arbeits¬
theilung der wissenschaftlichen Forschung bringen kann. Gering ist der Werth
derjenigen wissenschaftlichen Arbeit, welche nicht an die Nachbargebiete anknüpft
und sich mit ihnen einheitlich verbindet. Wie der Gesetzgeber in einem, viel¬
leicht an sich nicht schlechten Einzelgesetz einen Fehler begehen kann; wie dem
Gesetzgeber die Pflicht obliegt, alle Aufgaben der Gesetzgebung in möglichst
einfacher Form, mit thunlichst weit reichenden und umfassenden Gesetzen zu
erfüllen: so muß auch der wissenschaftliche Forscher vor allzu beschränkter Be¬
arbeitung eines allzu kleinen Gebiets sich hüten und so hat auch er die Pflicht,
seine Arbeitskräfte nicht kleinlich zu zersplittern, sondern für Erfüllung größerer
Aufgaben zusammen zu fassen. Nicht überflüssig erscheint es mir, daß ge¬
legentlich einmal an diese Pflicht erinnert werde; denn ich glaube schon heute
in schriftstellerischen Unternehmungen, deren Beurtheilung ich mir zutrauen
darf, schädliche Auswüchse einer krankhaft übertriebenen Arbeitstheilung zu er-
kennen. Daß ich in einem solchen Urtheil den Kreis der medizinischen Literatur
nicht überschreiten darf, brauche ich wohl nicht besonders zu begründen. Rich¬
tige Folgerungen auch für andere Bezirke der Literatur aus meinen Aeußerun¬
gen zu ziehen, darf ich dem zuständigen Urtheil anderer überlassen.

In der medizinischen Literatur nimmt eine besondere Art von Hand- und
Lehrbüchern einen immer breiteren Raum ein, welche ich kurz als Genvssen-
schaftslehrbücher bezeichnen will. Unter der Leitung von ein oder zwei Redakteuren
tritt eine Zahl von Schriftstellern, etwa zehn oder zwanzig zusammen, um ein
Lehr- oder Handbuch für eine wissenschaftliche Disziplin zu verfassen, z. B.
ein Handbuch der Chirurgie, ein Lehrbuch der Kinderkrankheiten u. s. w. Die
betreffende Disziplin wird in kleine Stückchen zerlegt und jeder Mitarbeiter
erhält ein oder zwei Stückchen zugewiesen, um seine Kräfte an ihnen zu erproben.
Man begreift, welch' ungeordnetes Mosaik auf diesem Wege geschaffen werden
muß, und eine einheitliche Zusammenstellung des Mosaiks Seitens der Redaktion
erweist sich einfach als Unmöglichkeit. Die einzige Einheit einer solchen
wissenschaftlichen Arbeit wird durch den Verleger geschaffen, welcher alle Theile nut
gleichem Titel versieht, dnrch den Setzer, welcher alle Theile mit gleichen
Lettern setzt, und von dem Buchbinder, welcher die Bogen zusammenordnet und
heftet. Der Inhalt ist ein Zerrbild dessen, was ein Hand- oder Lehrbuch sein


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[0226] den Gesetzen der Gewebeentwickelung nachzuforschen. Hier, wie überall, ist es nicht die nackte Thatsache, welche das Endziel wissenschaftlicher Forschung darstellt; sondern ans der Thatsache soll das Gesetz ihres Geschehens entwickelt werden. Das erst ist wissenschaftliche Forschung. Da wir nun die wissenschaftliche Forschung mit zu den selbstverständlichen Pflichten des wissenschaftlichen Lehrers rechnen müssen, so darf ich hier auf die Gefahr hinweisen, welche eine übertriebene und mißverstandene Arbeits¬ theilung der wissenschaftlichen Forschung bringen kann. Gering ist der Werth derjenigen wissenschaftlichen Arbeit, welche nicht an die Nachbargebiete anknüpft und sich mit ihnen einheitlich verbindet. Wie der Gesetzgeber in einem, viel¬ leicht an sich nicht schlechten Einzelgesetz einen Fehler begehen kann; wie dem Gesetzgeber die Pflicht obliegt, alle Aufgaben der Gesetzgebung in möglichst einfacher Form, mit thunlichst weit reichenden und umfassenden Gesetzen zu erfüllen: so muß auch der wissenschaftliche Forscher vor allzu beschränkter Be¬ arbeitung eines allzu kleinen Gebiets sich hüten und so hat auch er die Pflicht, seine Arbeitskräfte nicht kleinlich zu zersplittern, sondern für Erfüllung größerer Aufgaben zusammen zu fassen. Nicht überflüssig erscheint es mir, daß ge¬ legentlich einmal an diese Pflicht erinnert werde; denn ich glaube schon heute in schriftstellerischen Unternehmungen, deren Beurtheilung ich mir zutrauen darf, schädliche Auswüchse einer krankhaft übertriebenen Arbeitstheilung zu er- kennen. Daß ich in einem solchen Urtheil den Kreis der medizinischen Literatur nicht überschreiten darf, brauche ich wohl nicht besonders zu begründen. Rich¬ tige Folgerungen auch für andere Bezirke der Literatur aus meinen Aeußerun¬ gen zu ziehen, darf ich dem zuständigen Urtheil anderer überlassen. In der medizinischen Literatur nimmt eine besondere Art von Hand- und Lehrbüchern einen immer breiteren Raum ein, welche ich kurz als Genvssen- schaftslehrbücher bezeichnen will. Unter der Leitung von ein oder zwei Redakteuren tritt eine Zahl von Schriftstellern, etwa zehn oder zwanzig zusammen, um ein Lehr- oder Handbuch für eine wissenschaftliche Disziplin zu verfassen, z. B. ein Handbuch der Chirurgie, ein Lehrbuch der Kinderkrankheiten u. s. w. Die betreffende Disziplin wird in kleine Stückchen zerlegt und jeder Mitarbeiter erhält ein oder zwei Stückchen zugewiesen, um seine Kräfte an ihnen zu erproben. Man begreift, welch' ungeordnetes Mosaik auf diesem Wege geschaffen werden muß, und eine einheitliche Zusammenstellung des Mosaiks Seitens der Redaktion erweist sich einfach als Unmöglichkeit. Die einzige Einheit einer solchen wissenschaftlichen Arbeit wird durch den Verleger geschaffen, welcher alle Theile nut gleichem Titel versieht, dnrch den Setzer, welcher alle Theile mit gleichen Lettern setzt, und von dem Buchbinder, welcher die Bogen zusammenordnet und heftet. Der Inhalt ist ein Zerrbild dessen, was ein Hand- oder Lehrbuch sein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/226>, abgerufen am 01.07.2024.