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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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wurde, schrieb jemand einen solchen Zettel und gebot ihm, denselben sofort in
die Tasche zu stecken. Jener that wie ihm geheißen, und augenblicklich hörten
die Zahnschmerzen auf. Voll Freude erzählte er es anderen Leuten, und als
man ihn darauf fragte, ob er wisse, was auf dem Zettel stehe, nahm er ihn
heraus und fand darauf die Worte: "In der Hölle sehen wir uns wieder."
Entsetzt zerriß er das Papier, und im Nu hatte er seine Zahnschmerzen wieder.

Eine Art Abstreifen der angezauberten Krankheit scheint in einigen
sonderbaren Weisen sympathetischer Selbstheilung zu liegen, z. B. in der ost¬
friesischen Sitte, bei Krankheiten durch eine Leiter oder durch eine Pferdehalfter
hindurch zu kriechen. In gewissen Gegenden versucht man bestimmte Krank¬
heiten auch damit zu kuriren, daß man den Patienten durch einen gespaltenen
Baum zieht oder durch ein großes Astloch hindurchzwängt.

Das Abnehmen oder Messen, welches fast nur mit Leuten vorge-
nomen wird, die an der Auszehrung leiden, und im größten Theile von Mit¬
teldeutschland unter den Altgläubigen im Gebrauch ist, besteht in folgendem
Verfahren: Der Kranke legt sich platt auf den Boden hin, so daß er das Gesicht
nach unten gekehrt hat, und streckt Arme und Beine aus, sodaß er ein Kreuz
bildet. Dann wird er, gewöhnlich von einer Fran, mit einer Schnur erst
der Länge nach, vom Scheitel bis zu den Fußsohlen, und hierauf in die Quer,
d. h. von der rechten Mittelfingerspitze bis- zur linken, gemessen. Stimmen die
beiden Längen überein, oder weichen sie nur wenig von einander ab, so hat
der Kranke "das rechte Maß", und es ist ihm noch zu helfen; ist dagegen der
Unterschied zwischen jenen groß, so ist keine Hoffnung mehr für ihn. Im gün¬
stigen Falle macht die Messende, nachdem sie das Maß abgenommen, ge¬
wöhnlich verschiedene Zeichen, namentlich das Kreuz, und bespricht den Patienten
mit einem Segen, und dieser bekommt Wasser zu trinken, wozu er in Schlesien
zu sagen hat; "Ich trinke für die Allmacht, für die Gotteskraft und für die
77 Seuchen im Namen Gottes u. s. w. Der Rest des Wassers wird dann in
einen Fluß oder Bach geschüttet.

Ich bemerke zum Schlüsse noch, daß die "klugen Schäfer" und die "weisen
Frauen", die sich mit dieser Art Heilversuchen befassen, und die beiläufig kei¬
neswegs blos von einfältigen Bciuernvvlk, sondern auch, und zwar gar nicht
selten, von recht vornehmen und "gebildeten" Leuten konsultirt werden, M
ihren Hokuspokus in der Regel kein Honorar verlangen, da ihre Sprüche,
Ceremonien und Arzneien im entgegengesetzten Falle nichts helfen sollen. Indeß
dürfen sie freiwillig dargebotene Geschenke annehmen. Man sieht, die Kunst
ist stolz, auch gehört solche Anspruchslosigkeit in das Gebiet des Ungewöhnlichen
und Unbegreiflichen und paßt somit aufs Beste zu dem ganzen Charakter des
Verfahrens.




wurde, schrieb jemand einen solchen Zettel und gebot ihm, denselben sofort in
die Tasche zu stecken. Jener that wie ihm geheißen, und augenblicklich hörten
die Zahnschmerzen auf. Voll Freude erzählte er es anderen Leuten, und als
man ihn darauf fragte, ob er wisse, was auf dem Zettel stehe, nahm er ihn
heraus und fand darauf die Worte: „In der Hölle sehen wir uns wieder."
Entsetzt zerriß er das Papier, und im Nu hatte er seine Zahnschmerzen wieder.

Eine Art Abstreifen der angezauberten Krankheit scheint in einigen
sonderbaren Weisen sympathetischer Selbstheilung zu liegen, z. B. in der ost¬
friesischen Sitte, bei Krankheiten durch eine Leiter oder durch eine Pferdehalfter
hindurch zu kriechen. In gewissen Gegenden versucht man bestimmte Krank¬
heiten auch damit zu kuriren, daß man den Patienten durch einen gespaltenen
Baum zieht oder durch ein großes Astloch hindurchzwängt.

Das Abnehmen oder Messen, welches fast nur mit Leuten vorge-
nomen wird, die an der Auszehrung leiden, und im größten Theile von Mit¬
teldeutschland unter den Altgläubigen im Gebrauch ist, besteht in folgendem
Verfahren: Der Kranke legt sich platt auf den Boden hin, so daß er das Gesicht
nach unten gekehrt hat, und streckt Arme und Beine aus, sodaß er ein Kreuz
bildet. Dann wird er, gewöhnlich von einer Fran, mit einer Schnur erst
der Länge nach, vom Scheitel bis zu den Fußsohlen, und hierauf in die Quer,
d. h. von der rechten Mittelfingerspitze bis- zur linken, gemessen. Stimmen die
beiden Längen überein, oder weichen sie nur wenig von einander ab, so hat
der Kranke „das rechte Maß", und es ist ihm noch zu helfen; ist dagegen der
Unterschied zwischen jenen groß, so ist keine Hoffnung mehr für ihn. Im gün¬
stigen Falle macht die Messende, nachdem sie das Maß abgenommen, ge¬
wöhnlich verschiedene Zeichen, namentlich das Kreuz, und bespricht den Patienten
mit einem Segen, und dieser bekommt Wasser zu trinken, wozu er in Schlesien
zu sagen hat; „Ich trinke für die Allmacht, für die Gotteskraft und für die
77 Seuchen im Namen Gottes u. s. w. Der Rest des Wassers wird dann in
einen Fluß oder Bach geschüttet.

Ich bemerke zum Schlüsse noch, daß die „klugen Schäfer" und die „weisen
Frauen", die sich mit dieser Art Heilversuchen befassen, und die beiläufig kei¬
neswegs blos von einfältigen Bciuernvvlk, sondern auch, und zwar gar nicht
selten, von recht vornehmen und „gebildeten" Leuten konsultirt werden, M
ihren Hokuspokus in der Regel kein Honorar verlangen, da ihre Sprüche,
Ceremonien und Arzneien im entgegengesetzten Falle nichts helfen sollen. Indeß
dürfen sie freiwillig dargebotene Geschenke annehmen. Man sieht, die Kunst
ist stolz, auch gehört solche Anspruchslosigkeit in das Gebiet des Ungewöhnlichen
und Unbegreiflichen und paßt somit aufs Beste zu dem ganzen Charakter des
Verfahrens.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/188>, abgerufen am 25.08.2024.