Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hinfährt. Eine Leiche in die große Zehe beißen, heilt nach schwäbischen und
schlesischen Aberglauben schwere Uebel, und es ist bei der naiven Denkart des
Volkes keineswegs unmöglich, daß diese Kur versucht worden ist. Bestreichen
mit einer Todtenhand beseitigt Warzen, Flechten, Mnttermaale, Gewächse, Frost¬
ballen, Ueberbeine u. d. -- eine Vorstellung, die durch ganz Nord- und Mittel¬
deutschland geht und auch in Tirol vorkommt. Trunksucht wird in Schlesien
dadurch kurirt, daß man dem Trunkenbold das Wasser, mit dem eine Leiche
nbgewaschen worden ist, mit Branntwein vermischt zu trinken gibt. Mit der
Hirnschale eines Todten eingerafftes Futter macht in verschiedenen mitteldeut¬
schen Strichen, daß das Vieh wohl gedeiht. Ringe aus verrosteten Sargnägeln
geschmiedet und an den Finger gesteckt heilen in Würtemberg Krämpfe und in
Hessen die Gicht. Die Nägel dürfen jedoch nicht gesucht, sondern müssen zu¬
fällig gefunden sein, und es ist nicht erlaubt, sie mit bloßen Händen anzufassen,
wenn sie ihre Kraft gewinnen und äußern sollen. In Ostfriesland vertreibt
Man sich mit solchen Nägeln die Zahnschmerzen, indem man mit ihnen in dem
kranken Zahne herumstochert. Eine Hand voll Erde in der Christnacht zwischen
zwölf und ein Uhr von einem Grabe geholt und auf die Brust gelegt heilt
jedes Lungenleiden, wenigstens wird in Tirol so angenommen. In Franken
kommen zuweilen noch Bauern in die Apotheke, um sich "Armsünderfett" aus-
zubitten, wie man anderwärts Menschen-, Löwen- oder gar Mückenfett zu
Medizinischen Zwecken verlangt und von den Apothekern, die Spaß oder ihren
Vortheil verstehen, auch erhält. Ganz besonders geschätzt aber ist unter aber¬
gläubischen Leuten das Blut von Hingerichteten, das jetzt, wo die etwa noch
vorkommenden Exekutionen nicht mehr öffentlich vollzogen werden, schwerlich
"och zu haben sein wird, früher aber von der sich herandrängenden Volksmenge
begierig mit Löffeln und Töpfen aufgerafft oder mit Tüchern aufgenommen
wurde; denn wenn man es trank und dann so lange rasch fortlief, als man
Athem hatte, heilte es die fallende Sucht.

Auch sonst sind nach dem Volksglauben Dinge, die zum menschlichen
Körper gehören, heilkräftig. In Schlesien z. B. muß man sich in der Nacht
"or dem Karfreitage die Haare kämmen, die dabei ausgehenden auf ein
Kohlenfeuer werfen und den davon aufsteigenden Rauch einathmen; denn das
vertreibt Zahnschmerzen. Noch im Jahre 1859 hörte man von einem Wunder¬
doktor in Franken, einem katholischen Pfarrer, der seine Kranken dadurch heilte,
daß er denselben Haare und Nägel abschnitt und das Abgeschnittene in die
Erde eingrub.

Eine ziemlich große Menge von Heilmitteln der Volksapotheke muß so
dann wohl oder übel die Kirche liefern. So wirkt z. B. das Taufwasser nach
ostfriesischen Aberglauben heilend bei Kinder- und Angenkrankheite". So ver-
'


Gttuzlwlcn IV. let77. ^

hinfährt. Eine Leiche in die große Zehe beißen, heilt nach schwäbischen und
schlesischen Aberglauben schwere Uebel, und es ist bei der naiven Denkart des
Volkes keineswegs unmöglich, daß diese Kur versucht worden ist. Bestreichen
mit einer Todtenhand beseitigt Warzen, Flechten, Mnttermaale, Gewächse, Frost¬
ballen, Ueberbeine u. d. — eine Vorstellung, die durch ganz Nord- und Mittel¬
deutschland geht und auch in Tirol vorkommt. Trunksucht wird in Schlesien
dadurch kurirt, daß man dem Trunkenbold das Wasser, mit dem eine Leiche
nbgewaschen worden ist, mit Branntwein vermischt zu trinken gibt. Mit der
Hirnschale eines Todten eingerafftes Futter macht in verschiedenen mitteldeut¬
schen Strichen, daß das Vieh wohl gedeiht. Ringe aus verrosteten Sargnägeln
geschmiedet und an den Finger gesteckt heilen in Würtemberg Krämpfe und in
Hessen die Gicht. Die Nägel dürfen jedoch nicht gesucht, sondern müssen zu¬
fällig gefunden sein, und es ist nicht erlaubt, sie mit bloßen Händen anzufassen,
wenn sie ihre Kraft gewinnen und äußern sollen. In Ostfriesland vertreibt
Man sich mit solchen Nägeln die Zahnschmerzen, indem man mit ihnen in dem
kranken Zahne herumstochert. Eine Hand voll Erde in der Christnacht zwischen
zwölf und ein Uhr von einem Grabe geholt und auf die Brust gelegt heilt
jedes Lungenleiden, wenigstens wird in Tirol so angenommen. In Franken
kommen zuweilen noch Bauern in die Apotheke, um sich „Armsünderfett" aus-
zubitten, wie man anderwärts Menschen-, Löwen- oder gar Mückenfett zu
Medizinischen Zwecken verlangt und von den Apothekern, die Spaß oder ihren
Vortheil verstehen, auch erhält. Ganz besonders geschätzt aber ist unter aber¬
gläubischen Leuten das Blut von Hingerichteten, das jetzt, wo die etwa noch
vorkommenden Exekutionen nicht mehr öffentlich vollzogen werden, schwerlich
"och zu haben sein wird, früher aber von der sich herandrängenden Volksmenge
begierig mit Löffeln und Töpfen aufgerafft oder mit Tüchern aufgenommen
wurde; denn wenn man es trank und dann so lange rasch fortlief, als man
Athem hatte, heilte es die fallende Sucht.

Auch sonst sind nach dem Volksglauben Dinge, die zum menschlichen
Körper gehören, heilkräftig. In Schlesien z. B. muß man sich in der Nacht
"or dem Karfreitage die Haare kämmen, die dabei ausgehenden auf ein
Kohlenfeuer werfen und den davon aufsteigenden Rauch einathmen; denn das
vertreibt Zahnschmerzen. Noch im Jahre 1859 hörte man von einem Wunder¬
doktor in Franken, einem katholischen Pfarrer, der seine Kranken dadurch heilte,
daß er denselben Haare und Nägel abschnitt und das Abgeschnittene in die
Erde eingrub.

Eine ziemlich große Menge von Heilmitteln der Volksapotheke muß so
dann wohl oder übel die Kirche liefern. So wirkt z. B. das Taufwasser nach
ostfriesischen Aberglauben heilend bei Kinder- und Angenkrankheite». So ver-
'


Gttuzlwlcn IV. let77. ^
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0149" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/138908"/>
          <p xml:id="ID_395" prev="#ID_394"> hinfährt. Eine Leiche in die große Zehe beißen, heilt nach schwäbischen und<lb/>
schlesischen Aberglauben schwere Uebel, und es ist bei der naiven Denkart des<lb/>
Volkes keineswegs unmöglich, daß diese Kur versucht worden ist. Bestreichen<lb/>
mit einer Todtenhand beseitigt Warzen, Flechten, Mnttermaale, Gewächse, Frost¬<lb/>
ballen, Ueberbeine u. d. &#x2014; eine Vorstellung, die durch ganz Nord- und Mittel¬<lb/>
deutschland geht und auch in Tirol vorkommt. Trunksucht wird in Schlesien<lb/>
dadurch kurirt, daß man dem Trunkenbold das Wasser, mit dem eine Leiche<lb/>
nbgewaschen worden ist, mit Branntwein vermischt zu trinken gibt. Mit der<lb/>
Hirnschale eines Todten eingerafftes Futter macht in verschiedenen mitteldeut¬<lb/>
schen Strichen, daß das Vieh wohl gedeiht. Ringe aus verrosteten Sargnägeln<lb/>
geschmiedet und an den Finger gesteckt heilen in Würtemberg Krämpfe und in<lb/>
Hessen die Gicht. Die Nägel dürfen jedoch nicht gesucht, sondern müssen zu¬<lb/>
fällig gefunden sein, und es ist nicht erlaubt, sie mit bloßen Händen anzufassen,<lb/>
wenn sie ihre Kraft gewinnen und äußern sollen. In Ostfriesland vertreibt<lb/>
Man sich mit solchen Nägeln die Zahnschmerzen, indem man mit ihnen in dem<lb/>
kranken Zahne herumstochert. Eine Hand voll Erde in der Christnacht zwischen<lb/>
zwölf und ein Uhr von einem Grabe geholt und auf die Brust gelegt heilt<lb/>
jedes Lungenleiden, wenigstens wird in Tirol so angenommen. In Franken<lb/>
kommen zuweilen noch Bauern in die Apotheke, um sich &#x201E;Armsünderfett" aus-<lb/>
zubitten, wie man anderwärts Menschen-, Löwen- oder gar Mückenfett zu<lb/>
Medizinischen Zwecken verlangt und von den Apothekern, die Spaß oder ihren<lb/>
Vortheil verstehen, auch erhält. Ganz besonders geschätzt aber ist unter aber¬<lb/>
gläubischen Leuten das Blut von Hingerichteten, das jetzt, wo die etwa noch<lb/>
vorkommenden Exekutionen nicht mehr öffentlich vollzogen werden, schwerlich<lb/>
"och zu haben sein wird, früher aber von der sich herandrängenden Volksmenge<lb/>
begierig mit Löffeln und Töpfen aufgerafft oder mit Tüchern aufgenommen<lb/>
wurde; denn wenn man es trank und dann so lange rasch fortlief, als man<lb/>
Athem hatte, heilte es die fallende Sucht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_396"> Auch sonst sind nach dem Volksglauben Dinge, die zum menschlichen<lb/>
Körper gehören, heilkräftig. In Schlesien z. B. muß man sich in der Nacht<lb/>
"or dem Karfreitage die Haare kämmen, die dabei ausgehenden auf ein<lb/>
Kohlenfeuer werfen und den davon aufsteigenden Rauch einathmen; denn das<lb/>
vertreibt Zahnschmerzen. Noch im Jahre 1859 hörte man von einem Wunder¬<lb/>
doktor in Franken, einem katholischen Pfarrer, der seine Kranken dadurch heilte,<lb/>
daß er denselben Haare und Nägel abschnitt und das Abgeschnittene in die<lb/>
Erde eingrub.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_397" next="#ID_398"> Eine ziemlich große Menge von Heilmitteln der Volksapotheke muß so<lb/>
dann wohl oder übel die Kirche liefern. So wirkt z. B. das Taufwasser nach<lb/>
ostfriesischen Aberglauben heilend bei Kinder- und Angenkrankheite». So ver-<lb/>
'</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Gttuzlwlcn IV. let77. ^</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0149] hinfährt. Eine Leiche in die große Zehe beißen, heilt nach schwäbischen und schlesischen Aberglauben schwere Uebel, und es ist bei der naiven Denkart des Volkes keineswegs unmöglich, daß diese Kur versucht worden ist. Bestreichen mit einer Todtenhand beseitigt Warzen, Flechten, Mnttermaale, Gewächse, Frost¬ ballen, Ueberbeine u. d. — eine Vorstellung, die durch ganz Nord- und Mittel¬ deutschland geht und auch in Tirol vorkommt. Trunksucht wird in Schlesien dadurch kurirt, daß man dem Trunkenbold das Wasser, mit dem eine Leiche nbgewaschen worden ist, mit Branntwein vermischt zu trinken gibt. Mit der Hirnschale eines Todten eingerafftes Futter macht in verschiedenen mitteldeut¬ schen Strichen, daß das Vieh wohl gedeiht. Ringe aus verrosteten Sargnägeln geschmiedet und an den Finger gesteckt heilen in Würtemberg Krämpfe und in Hessen die Gicht. Die Nägel dürfen jedoch nicht gesucht, sondern müssen zu¬ fällig gefunden sein, und es ist nicht erlaubt, sie mit bloßen Händen anzufassen, wenn sie ihre Kraft gewinnen und äußern sollen. In Ostfriesland vertreibt Man sich mit solchen Nägeln die Zahnschmerzen, indem man mit ihnen in dem kranken Zahne herumstochert. Eine Hand voll Erde in der Christnacht zwischen zwölf und ein Uhr von einem Grabe geholt und auf die Brust gelegt heilt jedes Lungenleiden, wenigstens wird in Tirol so angenommen. In Franken kommen zuweilen noch Bauern in die Apotheke, um sich „Armsünderfett" aus- zubitten, wie man anderwärts Menschen-, Löwen- oder gar Mückenfett zu Medizinischen Zwecken verlangt und von den Apothekern, die Spaß oder ihren Vortheil verstehen, auch erhält. Ganz besonders geschätzt aber ist unter aber¬ gläubischen Leuten das Blut von Hingerichteten, das jetzt, wo die etwa noch vorkommenden Exekutionen nicht mehr öffentlich vollzogen werden, schwerlich "och zu haben sein wird, früher aber von der sich herandrängenden Volksmenge begierig mit Löffeln und Töpfen aufgerafft oder mit Tüchern aufgenommen wurde; denn wenn man es trank und dann so lange rasch fortlief, als man Athem hatte, heilte es die fallende Sucht. Auch sonst sind nach dem Volksglauben Dinge, die zum menschlichen Körper gehören, heilkräftig. In Schlesien z. B. muß man sich in der Nacht "or dem Karfreitage die Haare kämmen, die dabei ausgehenden auf ein Kohlenfeuer werfen und den davon aufsteigenden Rauch einathmen; denn das vertreibt Zahnschmerzen. Noch im Jahre 1859 hörte man von einem Wunder¬ doktor in Franken, einem katholischen Pfarrer, der seine Kranken dadurch heilte, daß er denselben Haare und Nägel abschnitt und das Abgeschnittene in die Erde eingrub. Eine ziemlich große Menge von Heilmitteln der Volksapotheke muß so dann wohl oder übel die Kirche liefern. So wirkt z. B. das Taufwasser nach ostfriesischen Aberglauben heilend bei Kinder- und Angenkrankheite». So ver- ' Gttuzlwlcn IV. let77. ^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/149
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/149>, abgerufen am 22.07.2024.