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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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empfängt, in Betreff der Kanzlerkrisis in Berlin folgende etwas blaß gefärbte
Erklärung gegeben.

Die Königin Victoria schrieb vor einiger Zeit direkt an den Fürsten
v. Bismarck, um ihm die Verhinderung des Krieges zwischen Rußland und
der Pforte ans Herz zu legen. Die Antwort lautete ausweichend. Darauf
ein zweiter Brief Ihrer britischen Majestät an den Reichskanzler, in welchem
jenes Verlangen dringender wiederholt wurde. Die Antwort drückte sich dies¬
mal etwas bestimmter ans, war aber noch nicht nach dem Geschmack der
Königin. Nun wendete sie sich an den Kaiser und machte ihn und Deutsch¬
land für den ausbrechenden Krieg verantwortlich.

Wir wissen nicht, wie viel Wahres an diesem Bericht ist, halten ihn aber
für nicht unglaubwürdig und sind überdies der Ansicht, daß jene merkwürdige
Zumuthung, uach der wir unsern getreuen Nachbar in Rußland ohne irgend
welchen in unseren Verhältnissen und Bedürfnissen liegenden Grund, lediglich
aus Gefälligkeit gegen die Herren Engländer, damit diese sich nicht so sehr für
ihre Interessen am Bosporus zu echauffiren brauchten und mit Seelenruhe
ihren Schacher weiter betreiben könnten, zu zwingen verpflichtet gewesen wären,
Frieden zu halten, -- daß also jenes mindestens sehr eigenthümliche Verlangen
auch noch auf einem anderen Wege, den wir die Leser dieser Korrespondenzen
errathen lassen, an Se. Majestät gelangt ist und hier warme Befürwortung
gefunden hat. Dazu ist aber Folgendes zu bemerken. Se. Majestät ist durch¬
aus friedfertig. Er wünscht aufrichtig, sich, dem deutschen Volke, der ganzen
Welt neue Kriege erspart zu sehen. Er ist infolge dieser Stimmung geneigt,
Wünschen und Rathschlägen Gehör zu schenken, die nach der Meinung Derjeni¬
gen, die sie ihm vortragen, dem Frieden dienen. Aber solche Rathschläge können,
wenn sie nicht von einer hohen Intelligenz, von einem weiten Blick, der alle
in Betracht kommenden Umstände und Möglichkeiten umfaßt, eingegeben sind,
gerade zum Gegentheile Dessen, was sie bezwecken, also gerade zum Kriege
führen. Im Januar beschwor die "Times" den Reichskanzler, zu befehlen,
daß Ruhe gehalten werde. Etwas später richtete sie eine gleiche bewegliche
Ansprache an den Kaiser, und mit Bestimmtheit dürfen wir annehmen, daß die
Königin Victoria von ihrem pfiffigen semitischen Berather veranlaßt worden
ist, mir Benutzung des oben angedeuteten Kanals gleichzeitig in demselben
Sinne zu wirken.

Gesetzt nun den Fall, Deutschland hätte sich -- man kann in der That
kaum einen anderen Ausdruck gebrauchen -- breitschlagen lassen, es hätte sich
in Positur gesetzt und "Ruhe in Europa!" gerufen, Rußland aber hätte sich
an das Machtwort nicht gekehrt und marschiren lassen, was wäre dann ge¬
schehen? Nun entweder hätten wir dann zur Erhaltung des Friedens einen


empfängt, in Betreff der Kanzlerkrisis in Berlin folgende etwas blaß gefärbte
Erklärung gegeben.

Die Königin Victoria schrieb vor einiger Zeit direkt an den Fürsten
v. Bismarck, um ihm die Verhinderung des Krieges zwischen Rußland und
der Pforte ans Herz zu legen. Die Antwort lautete ausweichend. Darauf
ein zweiter Brief Ihrer britischen Majestät an den Reichskanzler, in welchem
jenes Verlangen dringender wiederholt wurde. Die Antwort drückte sich dies¬
mal etwas bestimmter ans, war aber noch nicht nach dem Geschmack der
Königin. Nun wendete sie sich an den Kaiser und machte ihn und Deutsch¬
land für den ausbrechenden Krieg verantwortlich.

Wir wissen nicht, wie viel Wahres an diesem Bericht ist, halten ihn aber
für nicht unglaubwürdig und sind überdies der Ansicht, daß jene merkwürdige
Zumuthung, uach der wir unsern getreuen Nachbar in Rußland ohne irgend
welchen in unseren Verhältnissen und Bedürfnissen liegenden Grund, lediglich
aus Gefälligkeit gegen die Herren Engländer, damit diese sich nicht so sehr für
ihre Interessen am Bosporus zu echauffiren brauchten und mit Seelenruhe
ihren Schacher weiter betreiben könnten, zu zwingen verpflichtet gewesen wären,
Frieden zu halten, — daß also jenes mindestens sehr eigenthümliche Verlangen
auch noch auf einem anderen Wege, den wir die Leser dieser Korrespondenzen
errathen lassen, an Se. Majestät gelangt ist und hier warme Befürwortung
gefunden hat. Dazu ist aber Folgendes zu bemerken. Se. Majestät ist durch¬
aus friedfertig. Er wünscht aufrichtig, sich, dem deutschen Volke, der ganzen
Welt neue Kriege erspart zu sehen. Er ist infolge dieser Stimmung geneigt,
Wünschen und Rathschlägen Gehör zu schenken, die nach der Meinung Derjeni¬
gen, die sie ihm vortragen, dem Frieden dienen. Aber solche Rathschläge können,
wenn sie nicht von einer hohen Intelligenz, von einem weiten Blick, der alle
in Betracht kommenden Umstände und Möglichkeiten umfaßt, eingegeben sind,
gerade zum Gegentheile Dessen, was sie bezwecken, also gerade zum Kriege
führen. Im Januar beschwor die „Times" den Reichskanzler, zu befehlen,
daß Ruhe gehalten werde. Etwas später richtete sie eine gleiche bewegliche
Ansprache an den Kaiser, und mit Bestimmtheit dürfen wir annehmen, daß die
Königin Victoria von ihrem pfiffigen semitischen Berather veranlaßt worden
ist, mir Benutzung des oben angedeuteten Kanals gleichzeitig in demselben
Sinne zu wirken.

Gesetzt nun den Fall, Deutschland hätte sich — man kann in der That
kaum einen anderen Ausdruck gebrauchen — breitschlagen lassen, es hätte sich
in Positur gesetzt und „Ruhe in Europa!" gerufen, Rußland aber hätte sich
an das Machtwort nicht gekehrt und marschiren lassen, was wäre dann ge¬
schehen? Nun entweder hätten wir dann zur Erhaltung des Friedens einen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/321>, abgerufen am 26.06.2024.