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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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sang zu bringen, die verwandten zusammenzustellen. Aber die Brücken zu
finden, die aus dem einen Sprachgebiete in das andere führten, schien schlechter¬
dings ausgeschlossen, und so leugnete man jede Möglichkeit einer ehemaligen
Sprachgemeinschaft aller Menschen. Da trat Darwin mit seiner neuen Be¬
gründung der Descendenzlehre auf, deren nothwendige Konsequenz die Einheit
des Menschengeschlechts in Bezug auf Art und Ursprung ist: die Racen
können nach ihm nicht ebenso viele Arten von Menschen im naturwissenschaft¬
lichen Sinne bezeichnen, und die Menschheit muß an einer bestimmten Stelle
ins Leben getreten sein. Infolge dieser Erkenntniß kam die Sprachforschung
mit ihrem negativen Ergebniß ins Gedränge. Da that Hcickel den kühnen
Griff, den "sprachlosen Urmenschen" zu erfinden, der von Sprachforschern wie
Friedrich Müller und Schleicher acceptirt wurde, aber eine durch nichts ge¬
rechtfertigte Hypothese ist.

Bei der Vergleichung der Sprachen nämlich offenbart sich ein stufenweiser
Fortschritt zum Höheren. Diese Stufen heißen Isolirung, Agglutination und
Flexion. Bei der Flexion, welche nur die Sprachen der Arier und Semiten
kennen, unterscheiden wir als Theile der Rede die Wörter und in diesen
Stamm und Endung. Der Stamm gibt die Bedeutung an, die Endung,
ursprünglich auch ein selbständiges Stamm- oder Wurzelwort, sagt, in welcher
Funktion der allgemeine Begriff in dem betreffenden Satze auftritt. In den
agglutinirenden Sprachen, zu denen das Baskische, Finnische, Magyarische
und Türkische sowie die Idiome der meisten farbigen Völker in Asien, Afrika,
Amerika und Polynesien gehören, werden die Beziehungslaute nur lose an¬
gefügt, sodaß sie nicht zur Worteinheit verschmelzen. Die isolirenden Sprachen,
das Chinesische und die Mundarten Hinterindiens, machen keinen Unterschied
zwischen Bedeutungs- und Beziehungslauten, da sie nur einsilbige Wurzeln
haben, welche gleichwerthig und unverbunden neben einander gestellt werden,
wobei die Beziehung durch die Stellung bezeichnet wird. Diese Sprachen
stehen der Urgestalt menschlicher Rede am Nächsten. Denn aus einsilbigen
Lautkomplexen muß die Sprache der ersten Menschen bestanden haben. In
der Mitte stehen die agglutinirenden Sprachen, die wie ein Versuch aussehen,
durch die Fixirung von Beziehungslauten zur Worteinheit, d. h. zur Flexion
zu gelangen, ein Versuch, welcher in der höchsten Stufe, der unsre Sprachen an¬
gehören, gelungen ist. Die Sprache ist also geworden, sie ist die allmähliche
Errungenschaft des menschlichen Geistes. Sie muß folglich ganz ebenso wie
die Welt der Organismen ihre Descendenzlehre haben: die flektirende Sprache
muß einmal auf der ersten, dann auf der zweiten Stufe der Entwickelung ge¬
standen haben.

Wo aber ist dieser Stufengang durchgemacht worden? In keinem der


sang zu bringen, die verwandten zusammenzustellen. Aber die Brücken zu
finden, die aus dem einen Sprachgebiete in das andere führten, schien schlechter¬
dings ausgeschlossen, und so leugnete man jede Möglichkeit einer ehemaligen
Sprachgemeinschaft aller Menschen. Da trat Darwin mit seiner neuen Be¬
gründung der Descendenzlehre auf, deren nothwendige Konsequenz die Einheit
des Menschengeschlechts in Bezug auf Art und Ursprung ist: die Racen
können nach ihm nicht ebenso viele Arten von Menschen im naturwissenschaft¬
lichen Sinne bezeichnen, und die Menschheit muß an einer bestimmten Stelle
ins Leben getreten sein. Infolge dieser Erkenntniß kam die Sprachforschung
mit ihrem negativen Ergebniß ins Gedränge. Da that Hcickel den kühnen
Griff, den „sprachlosen Urmenschen" zu erfinden, der von Sprachforschern wie
Friedrich Müller und Schleicher acceptirt wurde, aber eine durch nichts ge¬
rechtfertigte Hypothese ist.

Bei der Vergleichung der Sprachen nämlich offenbart sich ein stufenweiser
Fortschritt zum Höheren. Diese Stufen heißen Isolirung, Agglutination und
Flexion. Bei der Flexion, welche nur die Sprachen der Arier und Semiten
kennen, unterscheiden wir als Theile der Rede die Wörter und in diesen
Stamm und Endung. Der Stamm gibt die Bedeutung an, die Endung,
ursprünglich auch ein selbständiges Stamm- oder Wurzelwort, sagt, in welcher
Funktion der allgemeine Begriff in dem betreffenden Satze auftritt. In den
agglutinirenden Sprachen, zu denen das Baskische, Finnische, Magyarische
und Türkische sowie die Idiome der meisten farbigen Völker in Asien, Afrika,
Amerika und Polynesien gehören, werden die Beziehungslaute nur lose an¬
gefügt, sodaß sie nicht zur Worteinheit verschmelzen. Die isolirenden Sprachen,
das Chinesische und die Mundarten Hinterindiens, machen keinen Unterschied
zwischen Bedeutungs- und Beziehungslauten, da sie nur einsilbige Wurzeln
haben, welche gleichwerthig und unverbunden neben einander gestellt werden,
wobei die Beziehung durch die Stellung bezeichnet wird. Diese Sprachen
stehen der Urgestalt menschlicher Rede am Nächsten. Denn aus einsilbigen
Lautkomplexen muß die Sprache der ersten Menschen bestanden haben. In
der Mitte stehen die agglutinirenden Sprachen, die wie ein Versuch aussehen,
durch die Fixirung von Beziehungslauten zur Worteinheit, d. h. zur Flexion
zu gelangen, ein Versuch, welcher in der höchsten Stufe, der unsre Sprachen an¬
gehören, gelungen ist. Die Sprache ist also geworden, sie ist die allmähliche
Errungenschaft des menschlichen Geistes. Sie muß folglich ganz ebenso wie
die Welt der Organismen ihre Descendenzlehre haben: die flektirende Sprache
muß einmal auf der ersten, dann auf der zweiten Stufe der Entwickelung ge¬
standen haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/282>, abgerufen am 26.06.2024.