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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Wichtiger indeß als die retrospektive Kritik über den Abstimmnngsmvdns,
ist die Untersuchung der Frage, was dieser Ausgang der Sache bedeute. Mail
hat von einer schweren Niederlage der Regierung gesprochen; vorher war sogar
schon das Gerücht ausgesprengt worden, Minister Camphausen werde im Falle
der Nichtannahme des Gesetzentwurfs seine Entlassung nehmen. Angesichts
des ganzen Verlaufs der Verhandlungen fällt solches Gerede in sich selbst zu¬
sammen. Sämmtliche Redner, welche den Gesetzentwurf bekämpften, haben als
ihren alleinigen Zweck aufgestellt: die Aufrechterhaltung der Grundsätze der
bestehenden Handelspolitik. Die Minister Camphausen und Ueberhand haben
auf das Nachdrücklichste versichert, daß an eine Erschütterung dieser Grundsätze
nicht gedacht werde. Wo ist hier ein prinzipieller Gegensatz? Die ganze Diffe¬
renz dreht sich um eine Zweckmüßigkeitsmaßregel, von deren Nothwendigkeit
und Ersprießlichkeit die Minister grade die Freunde ihrer Wirthschaftspolitik
nicht zu überzeugen vermochten. Noch mehr aber: Wenn man erwägt, wie sich
in der Diskussion die Situation gestaltet hatte, wie für die Regierung fast nur
die offenkuttdigsteu Feinde ihrer Wirthschaftspolitik eingetreten waren, so,
dünkt uns, mögen die leitenden Männer sich im Stillen beglückwünschen,
daß man sie noch rechtzeitig von dieser seltsamen Bundesgenossenschaft be¬
freit hat.

Eine schwere Niederlage bedeutete die Entscheidung vom letzten Freitag
allerdings, aber lediglich für die schutzzöllnerische Agitation. Und ihre Wucht
hat sich verdoppelt durch das unmittelbar am Sonnabend folgende Fiasko des
Varnbülerischen Antrags. Der ehemalige württembergische Premier wollte unter
einer Reihe die bestehende Zollgesetzgebung tadelnder Erwägungen die Reichs¬
regierung ersucht wissen: "1. kommissarisch die Produktions- und Absatzver¬
hältnisse der deutschen Industrie und Landwirthschaft untersuchen zu lasse";
2. vor Beendigung dieser Untersuchung und Feststellung der sich aus derselben
ergebenden Resultate, Handelsverträge nicht abzuschließen." Der Antrag trug
eine ungewöhnlich große Anzahl von Unterschriften; von vielen dieser Namen
war notorisch, daß sie nichts weniger als geneigt seien, eine schutzzöllnerische
Propaganda zu unterstützen. Man darf heute, ohne zu verletzen, behaupten,
daß ein gut Theil der Unterzeichner einfach düpirt worden ist. Die eigent¬
liche Absicht des Antrags, eingebracht in dem Allgenblicke, da die Verhand¬
lungen mit Oesterreich über die Erneuerung des mit Ende dieses Jahres ab¬
laufenden Handelsvertrags eröffnet wurden, war keine andere als die Be¬
seitigung des bisherigen, auf dem Prinzip des gemäßigten Freihandels be¬
ruhenden Systems der Handelsverträge überhaupt. Diese Tendenz wurde in
der Reichstagsverhandlung vollkommen klargelegt. Die Mängel des "historisch
gewordenen" Tarifs gab der Präsident des Reichskanzleramts zu; dagegen be-


Wichtiger indeß als die retrospektive Kritik über den Abstimmnngsmvdns,
ist die Untersuchung der Frage, was dieser Ausgang der Sache bedeute. Mail
hat von einer schweren Niederlage der Regierung gesprochen; vorher war sogar
schon das Gerücht ausgesprengt worden, Minister Camphausen werde im Falle
der Nichtannahme des Gesetzentwurfs seine Entlassung nehmen. Angesichts
des ganzen Verlaufs der Verhandlungen fällt solches Gerede in sich selbst zu¬
sammen. Sämmtliche Redner, welche den Gesetzentwurf bekämpften, haben als
ihren alleinigen Zweck aufgestellt: die Aufrechterhaltung der Grundsätze der
bestehenden Handelspolitik. Die Minister Camphausen und Ueberhand haben
auf das Nachdrücklichste versichert, daß an eine Erschütterung dieser Grundsätze
nicht gedacht werde. Wo ist hier ein prinzipieller Gegensatz? Die ganze Diffe¬
renz dreht sich um eine Zweckmüßigkeitsmaßregel, von deren Nothwendigkeit
und Ersprießlichkeit die Minister grade die Freunde ihrer Wirthschaftspolitik
nicht zu überzeugen vermochten. Noch mehr aber: Wenn man erwägt, wie sich
in der Diskussion die Situation gestaltet hatte, wie für die Regierung fast nur
die offenkuttdigsteu Feinde ihrer Wirthschaftspolitik eingetreten waren, so,
dünkt uns, mögen die leitenden Männer sich im Stillen beglückwünschen,
daß man sie noch rechtzeitig von dieser seltsamen Bundesgenossenschaft be¬
freit hat.

Eine schwere Niederlage bedeutete die Entscheidung vom letzten Freitag
allerdings, aber lediglich für die schutzzöllnerische Agitation. Und ihre Wucht
hat sich verdoppelt durch das unmittelbar am Sonnabend folgende Fiasko des
Varnbülerischen Antrags. Der ehemalige württembergische Premier wollte unter
einer Reihe die bestehende Zollgesetzgebung tadelnder Erwägungen die Reichs¬
regierung ersucht wissen: „1. kommissarisch die Produktions- und Absatzver¬
hältnisse der deutschen Industrie und Landwirthschaft untersuchen zu lasse»;
2. vor Beendigung dieser Untersuchung und Feststellung der sich aus derselben
ergebenden Resultate, Handelsverträge nicht abzuschließen." Der Antrag trug
eine ungewöhnlich große Anzahl von Unterschriften; von vielen dieser Namen
war notorisch, daß sie nichts weniger als geneigt seien, eine schutzzöllnerische
Propaganda zu unterstützen. Man darf heute, ohne zu verletzen, behaupten,
daß ein gut Theil der Unterzeichner einfach düpirt worden ist. Die eigent¬
liche Absicht des Antrags, eingebracht in dem Allgenblicke, da die Verhand¬
lungen mit Oesterreich über die Erneuerung des mit Ende dieses Jahres ab¬
laufenden Handelsvertrags eröffnet wurden, war keine andere als die Be¬
seitigung des bisherigen, auf dem Prinzip des gemäßigten Freihandels be¬
ruhenden Systems der Handelsverträge überhaupt. Diese Tendenz wurde in
der Reichstagsverhandlung vollkommen klargelegt. Die Mängel des „historisch
gewordenen" Tarifs gab der Präsident des Reichskanzleramts zu; dagegen be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/242>, abgerufen am 23.07.2024.