Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.trägt, auf die Stellvertretung hätte übergehen müssen. Angesichts der be¬ Es ist Thatsache, daß diese Schwierigkeiten und Unklarheiten die Veran¬ trägt, auf die Stellvertretung hätte übergehen müssen. Angesichts der be¬ Es ist Thatsache, daß diese Schwierigkeiten und Unklarheiten die Veran¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0160" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137861"/> <p xml:id="ID_418" prev="#ID_417"> trägt, auf die Stellvertretung hätte übergehen müssen. Angesichts der be¬<lb/> stehenden Verfassungsbestümnungen würde dies unseres Trachtens nicht zulässig<lb/> gewesen sein. Allerdings, nach der Verfassung steht die Ernennung des Kanzlers<lb/> allein dem Kaiser zu; ebenso bestimmt das Gesetz betreffend die Verhältnisse<lb/> der Reichsbeamten, daß die Vorschriften über den Urlaub der Reichsbeamten<lb/> und deren Stellvertretung vom Kaiser erlassen werden. Man könnte also sagen,<lb/> daß es dem Kaiser frei stehe, die Stellvertretung des Reichskanzlers durchaus<lb/> nach seinein Gutdünken einzurichten. Aber ganz abgesehen davon, daß Artikel<lb/> 17 der Verfassung ausdrücklich den Reichskanzler als den alleinigen Träger<lb/> der Verantwortlichkeit für die Exekutive bezeichnet, eine Substitution desselben<lb/> in keiner Weise vorsieht und jedenfalls eine Mehrheit von Personen für die<lb/> Wahrnehmung dieser seiner Funktion ausschließt, würde eine derartige „volle"<lb/> Stellvertretung sicher dem Geiste des Konstitutivncilismus nicht entsprechen.<lb/> Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegenüber der Volksvertretung ist<lb/> nach Lage unserer Gesetzgebung vorwiegend moralischer Natur. In der Person<lb/> selbst, in ihrer Vergangenheit und in den aus derselben zu ziehenden Schlüssen<lb/> auf ihr zukünftiges Handeln liegt die Garantie, welche durch die verfassungs¬<lb/> mäßige Verantwortlichkeit geboten werden foll. Diese Garantie würde völlig<lb/> aufgehoben werden, wenn der Reichstag jeden Augenblick einer oder mehreren<lb/> anderen Personen gegenübergestellt werden könnte, deren Regieruugsprogrmnm<lb/> ihm unbekannt ist, und deren Funktion wiederum jede» Augenblick durch den<lb/> aus seinem Urlaub zurückkehrenden Reichskanzler beendigt werden könnte.</p><lb/> <p xml:id="ID_419" next="#ID_420"> Es ist Thatsache, daß diese Schwierigkeiten und Unklarheiten die Veran¬<lb/> lassung gewesen sind, die ursprünglich geplante „volle" Vertretung fallen zu<lb/> lassen und wieder den bisherigen Modus der Beurlaubung anzuwenden, nach<lb/> welchem dem Kanzler die Verantwortlichkeit auch währeud der Zeit seiner Ab¬<lb/> wesenheit verbleibt. Aber entschiedener als je ist diesmal die Erkenntniß durch¬<lb/> gedrungen, daß eine verfassungsmäßige Vorkehr zur Beseitigung dieser Schwie¬<lb/> rigkeiten für künftige Fälle unerläßlich ist. Diese Nothwendigkeit ist im Grunde<lb/> von keiner Partei bestritten worden; aber ebenso bestand andererseits fast allge¬<lb/> meines EinVerständniß darüber, daß die Lösung der überaus schwierigen Auf¬<lb/> gabe erst im Verein mit dem zurückgekehrten Reichskanzler in Angriff ge¬<lb/> nommen werden könne. Mit Recht betonte Bennigsen, wie es allein dem<lb/> Fürsten Bismarck vermöge des großen persönlichen Vertrauens, dessen er<lb/> seitens der deutschen Fürsten genießt, gelingen werde, die erforderliche Ver¬<lb/> fassungsänderung durchzusetzen. So ist denn vielleicht Aussicht vorhanden,<lb/> daß die Kanzlerkrisis wenigstens den Nutzen gehabt hat, einen wirksamen<lb/> Anstoß zur praktischen Lösung des Problems der Einrichtung verantwortlicher<lb/> Reichsministerien gegeben zu haben. Zunächst aber wollen wir hoffen, daß</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0160]
trägt, auf die Stellvertretung hätte übergehen müssen. Angesichts der be¬
stehenden Verfassungsbestümnungen würde dies unseres Trachtens nicht zulässig
gewesen sein. Allerdings, nach der Verfassung steht die Ernennung des Kanzlers
allein dem Kaiser zu; ebenso bestimmt das Gesetz betreffend die Verhältnisse
der Reichsbeamten, daß die Vorschriften über den Urlaub der Reichsbeamten
und deren Stellvertretung vom Kaiser erlassen werden. Man könnte also sagen,
daß es dem Kaiser frei stehe, die Stellvertretung des Reichskanzlers durchaus
nach seinein Gutdünken einzurichten. Aber ganz abgesehen davon, daß Artikel
17 der Verfassung ausdrücklich den Reichskanzler als den alleinigen Träger
der Verantwortlichkeit für die Exekutive bezeichnet, eine Substitution desselben
in keiner Weise vorsieht und jedenfalls eine Mehrheit von Personen für die
Wahrnehmung dieser seiner Funktion ausschließt, würde eine derartige „volle"
Stellvertretung sicher dem Geiste des Konstitutivncilismus nicht entsprechen.
Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegenüber der Volksvertretung ist
nach Lage unserer Gesetzgebung vorwiegend moralischer Natur. In der Person
selbst, in ihrer Vergangenheit und in den aus derselben zu ziehenden Schlüssen
auf ihr zukünftiges Handeln liegt die Garantie, welche durch die verfassungs¬
mäßige Verantwortlichkeit geboten werden foll. Diese Garantie würde völlig
aufgehoben werden, wenn der Reichstag jeden Augenblick einer oder mehreren
anderen Personen gegenübergestellt werden könnte, deren Regieruugsprogrmnm
ihm unbekannt ist, und deren Funktion wiederum jede» Augenblick durch den
aus seinem Urlaub zurückkehrenden Reichskanzler beendigt werden könnte.
Es ist Thatsache, daß diese Schwierigkeiten und Unklarheiten die Veran¬
lassung gewesen sind, die ursprünglich geplante „volle" Vertretung fallen zu
lassen und wieder den bisherigen Modus der Beurlaubung anzuwenden, nach
welchem dem Kanzler die Verantwortlichkeit auch währeud der Zeit seiner Ab¬
wesenheit verbleibt. Aber entschiedener als je ist diesmal die Erkenntniß durch¬
gedrungen, daß eine verfassungsmäßige Vorkehr zur Beseitigung dieser Schwie¬
rigkeiten für künftige Fälle unerläßlich ist. Diese Nothwendigkeit ist im Grunde
von keiner Partei bestritten worden; aber ebenso bestand andererseits fast allge¬
meines EinVerständniß darüber, daß die Lösung der überaus schwierigen Auf¬
gabe erst im Verein mit dem zurückgekehrten Reichskanzler in Angriff ge¬
nommen werden könne. Mit Recht betonte Bennigsen, wie es allein dem
Fürsten Bismarck vermöge des großen persönlichen Vertrauens, dessen er
seitens der deutschen Fürsten genießt, gelingen werde, die erforderliche Ver¬
fassungsänderung durchzusetzen. So ist denn vielleicht Aussicht vorhanden,
daß die Kanzlerkrisis wenigstens den Nutzen gehabt hat, einen wirksamen
Anstoß zur praktischen Lösung des Problems der Einrichtung verantwortlicher
Reichsministerien gegeben zu haben. Zunächst aber wollen wir hoffen, daß
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