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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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man billig ein positiveres Verfahren erwarten dürfen. Die Jnterpellation hat
nicht einmal den Werth einer Anregung für die Regierung gehabt; denn daß
dieselbe den gewerblichen Klagen eine ernste Aufmerksamkeit zuwendet, war
längst bekannt. Ebensowenig wird sie andrerseits ihren Urhebern den Ruhm
eintragen, die Gewerbeorduungsrevision zuerst und in fruchtbarer Weise in Angriff
genommen zu haben. Wie anders haben doch die Konservativen gehandelt!
Ihr Gesetzesvvrschlag wegen Abänderung der auf die Verhältnisse der Gesellen
und Lehrlinge bezüglichen Bestimmungen der Gewerbeordnung umfaßt zwar
nur einen Theil dessen, was sie für revisionsbedürftig halten, und trägt außer¬
dem deu Stempel der Uebereilung an der Stirn; aber er weiß doch, was er
will, sagt nicht allein bestimmt, was, sondern auch, wie geändert werden soll.
Auf nationalliberaler Seite sind gleichfalls positive Propositionen in Vorbe-
reitung. Dieselben, mit deu konservativen zusammengefaßt, werden die Unter¬
lage für eine ohne Zweifel ersprießlichere Berathung bilden, als wir sie am
letzten Montag erleben mußten.

Eine recht klägliche Episode dieser Woche bildete die Posener Zeugniß-
zwangaffaire. Als der Fall Kantecki vor einigen Wochen im preußischen Ab¬
geordnetenhaus" zur Sprache kam, konnte der Justizminister mit leichter Mühe
das Ansehen der Regierung wahren, indem er sich hinter die Unabhängigkeit
der Gerichte verschanzte. Die Vertreter der Reichsregiernng waren minder
glücklich. Der minutenlangen Heiterkeit, welche der Präsident des Reichskanzler¬
amtes dnrch seine grausame Halbirung des Fürsten Bismarck in zwei von
einander absolut verschiedene Personen hervorrief, folgte Staunen und Kopf-
schütteln. über Erklärungen und Argumeutationsweise des Generalpostmeisters
Stephan. Wehrenpfennig hat an derselben eine vernichtende Kritik geübt. In
der That begreift man uicht, wie die Verwaltung ein Verfahren fortsetzen
mag, bei dem sie nur verlieren, nicht gewinnen kann. Wie die Dinge liegen,
ist es selbstverständlich, daß der Redakteur Kantecki bei der Weigerung, die
Person zu bezeichnen, von welcher er den Erlaß der Oberpostdirektion in
Bromberg erhalten, beharren wird. Die Verwaltung kommt also allmählich
in die Lage, wegen Verweigerung der Zeugenaussage in Bezug auf eine Hand¬
lung, die nicht einmal unter das Strafgesetzbuch fällt, thatsächlich eine Frei¬
heitsstrafe zu vollziehen, wie sie sonst nnr für schwere Verbrechen erkannt
wird. Ein so schreiendes Mißverhältniß zwischen Mittel und Zweck mag sich
durch den Buchstaben des Gesetzes vertheidigen lassen, dem Geiste wahrer Ge¬
rechtigkeit entspricht es nicht. Obendrein noch ist die Verwaltung in Gefahr,
mit der bereits verkündeten neuen Strafprozeßordnung, nach welcher die Haft
zur Erzwingung des Zeugnisses höchstens sechs Monate dauern darf, in Wider¬
spruch zu treten; vier Monate sitzt der unglückliche Redakteur des "Kurher


man billig ein positiveres Verfahren erwarten dürfen. Die Jnterpellation hat
nicht einmal den Werth einer Anregung für die Regierung gehabt; denn daß
dieselbe den gewerblichen Klagen eine ernste Aufmerksamkeit zuwendet, war
längst bekannt. Ebensowenig wird sie andrerseits ihren Urhebern den Ruhm
eintragen, die Gewerbeorduungsrevision zuerst und in fruchtbarer Weise in Angriff
genommen zu haben. Wie anders haben doch die Konservativen gehandelt!
Ihr Gesetzesvvrschlag wegen Abänderung der auf die Verhältnisse der Gesellen
und Lehrlinge bezüglichen Bestimmungen der Gewerbeordnung umfaßt zwar
nur einen Theil dessen, was sie für revisionsbedürftig halten, und trägt außer¬
dem deu Stempel der Uebereilung an der Stirn; aber er weiß doch, was er
will, sagt nicht allein bestimmt, was, sondern auch, wie geändert werden soll.
Auf nationalliberaler Seite sind gleichfalls positive Propositionen in Vorbe-
reitung. Dieselben, mit deu konservativen zusammengefaßt, werden die Unter¬
lage für eine ohne Zweifel ersprießlichere Berathung bilden, als wir sie am
letzten Montag erleben mußten.

Eine recht klägliche Episode dieser Woche bildete die Posener Zeugniß-
zwangaffaire. Als der Fall Kantecki vor einigen Wochen im preußischen Ab¬
geordnetenhaus« zur Sprache kam, konnte der Justizminister mit leichter Mühe
das Ansehen der Regierung wahren, indem er sich hinter die Unabhängigkeit
der Gerichte verschanzte. Die Vertreter der Reichsregiernng waren minder
glücklich. Der minutenlangen Heiterkeit, welche der Präsident des Reichskanzler¬
amtes dnrch seine grausame Halbirung des Fürsten Bismarck in zwei von
einander absolut verschiedene Personen hervorrief, folgte Staunen und Kopf-
schütteln. über Erklärungen und Argumeutationsweise des Generalpostmeisters
Stephan. Wehrenpfennig hat an derselben eine vernichtende Kritik geübt. In
der That begreift man uicht, wie die Verwaltung ein Verfahren fortsetzen
mag, bei dem sie nur verlieren, nicht gewinnen kann. Wie die Dinge liegen,
ist es selbstverständlich, daß der Redakteur Kantecki bei der Weigerung, die
Person zu bezeichnen, von welcher er den Erlaß der Oberpostdirektion in
Bromberg erhalten, beharren wird. Die Verwaltung kommt also allmählich
in die Lage, wegen Verweigerung der Zeugenaussage in Bezug auf eine Hand¬
lung, die nicht einmal unter das Strafgesetzbuch fällt, thatsächlich eine Frei¬
heitsstrafe zu vollziehen, wie sie sonst nnr für schwere Verbrechen erkannt
wird. Ein so schreiendes Mißverhältniß zwischen Mittel und Zweck mag sich
durch den Buchstaben des Gesetzes vertheidigen lassen, dem Geiste wahrer Ge¬
rechtigkeit entspricht es nicht. Obendrein noch ist die Verwaltung in Gefahr,
mit der bereits verkündeten neuen Strafprozeßordnung, nach welcher die Haft
zur Erzwingung des Zeugnisses höchstens sechs Monate dauern darf, in Wider¬
spruch zu treten; vier Monate sitzt der unglückliche Redakteur des „Kurher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/526>, abgerufen am 23.07.2024.