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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Dafür, daß Lessing sein Projekt nicht fallen ließ, vielmehr an der Durch¬
führung beider Pläne fortarbeitete, führt Herr Engel eine Anzahl Beweise
aus Briefen und Aeußerungen von Bekannten des Dichters an. Einem Freunde
in Breslau zeigte er zwölf Bogen des Manuskriptes. In Danzels Biographie
Lessings findet sich ein Brief des Staatsraths v. Gehler in Wien an Nicolai
in Berlin, der vom 9. Dezember 1775 datirt ist, und in welchem jener sagt:
"Ich wünsche, daß Ew. Hochedelgeboren Hoffnung wegen der Erscheinung des
Lessingschen "Faust" zutreffen möge. Mir hat unser großer, aber gegen das
Publikum zu wenig freigebiger Freund auf mein Befragen mündlich vertraut,
daß er das Sujet zweimal bearbeitet habe, einmal nach der gemeinen Fabel,
dann wiederum ohne alle Teufelei, wo ein Erzbösewicht gegen einen Un¬
schuldigen die Rolle des schwarzen Verführers vertritt. Beide Ausarbeitungen
erwarten nur die letzte Hand." Nach seiner zweiten Ankunft in Hamburg
scheint der Dichter sich mit besonderem Eifer an die Feilung seines Stückes
gemacht zu habe", und wenn er mit der Herausgabe zögerte, so war wohl
nur das die Ursache, daß er das Erscheinen der übrigen damals angekündigten
Fauste (von Goethe, Lenz, Maler Müller und Schink) abwarten wollte.

Doch auch in Hamburg blieb der Faust Lessings wieder liegen, und
als letzterer die Stelle des Bibliothekars in Wolfenbüttel erhielt, nahm ihn
eine ausgebreitete gelehrte Thätigkeit fo vollständig in Anspruch, daß er an
das Theater nicht denken konnte. Nun aber machte er in Begleitung eines
Prinzen von Braunschweig im Jahre 1775 eine Reise nach Italien, und bei
dieser Gelegenheit ging ihm während der leipziger Ostermesse eine Kiste ver¬
loren, die er von Wolfenbüttel nach einer Mittheilung des Hauptmanns
v. Blankenburg aus dem Jahre 1784 bis Dresden, nach Lessings Bruder aber
bis Wien mitgenommen und von dort zurückgeschickt hatte, und in welcher sich
unter andern werthvollen Manuskripten, einer Anzahl neuer Fabeln und einer
fast vollendeten Abhandlung über die Herstellung eines deutsche" Wörterbuches,
auch die beiden Faustdramen befunden zu haben scheinen, v. Blankenburg be¬
hauptet dies mit Bestimmtheit und gibt dann einige Andeutungen über den
Gang des einen Stückes. Es begann nach ihm mit einer Zusammenkunft
höllischer Geister, bei welcher die Unterteufel ihrem Obersten Rechenschaft von
ihrem Thun aus Erden ablegten. Der letzte derselben berichtete, daß er wenigstens
einen Mann gefunden, dem gar nicht beizukommen sei, da er gar keine Leiden¬
schaft oder Schwäche, sondern nur einen unauslöschlichen Durst nach Kenntniß
und Wissen habe. Ha! ruft der Teufel aus, dann ist er mein und sicherer
mein als bei jeder andern Leidenschaft. Nun erhält Mephistopheles den Auf¬
trag, denselben zu fangen, und Anweisung, wie er dabei zu verfahren habe,
und in den folgenden Alten beginnt er sein Werk und vollendet es dem An-


Dafür, daß Lessing sein Projekt nicht fallen ließ, vielmehr an der Durch¬
führung beider Pläne fortarbeitete, führt Herr Engel eine Anzahl Beweise
aus Briefen und Aeußerungen von Bekannten des Dichters an. Einem Freunde
in Breslau zeigte er zwölf Bogen des Manuskriptes. In Danzels Biographie
Lessings findet sich ein Brief des Staatsraths v. Gehler in Wien an Nicolai
in Berlin, der vom 9. Dezember 1775 datirt ist, und in welchem jener sagt:
„Ich wünsche, daß Ew. Hochedelgeboren Hoffnung wegen der Erscheinung des
Lessingschen „Faust" zutreffen möge. Mir hat unser großer, aber gegen das
Publikum zu wenig freigebiger Freund auf mein Befragen mündlich vertraut,
daß er das Sujet zweimal bearbeitet habe, einmal nach der gemeinen Fabel,
dann wiederum ohne alle Teufelei, wo ein Erzbösewicht gegen einen Un¬
schuldigen die Rolle des schwarzen Verführers vertritt. Beide Ausarbeitungen
erwarten nur die letzte Hand." Nach seiner zweiten Ankunft in Hamburg
scheint der Dichter sich mit besonderem Eifer an die Feilung seines Stückes
gemacht zu habe», und wenn er mit der Herausgabe zögerte, so war wohl
nur das die Ursache, daß er das Erscheinen der übrigen damals angekündigten
Fauste (von Goethe, Lenz, Maler Müller und Schink) abwarten wollte.

Doch auch in Hamburg blieb der Faust Lessings wieder liegen, und
als letzterer die Stelle des Bibliothekars in Wolfenbüttel erhielt, nahm ihn
eine ausgebreitete gelehrte Thätigkeit fo vollständig in Anspruch, daß er an
das Theater nicht denken konnte. Nun aber machte er in Begleitung eines
Prinzen von Braunschweig im Jahre 1775 eine Reise nach Italien, und bei
dieser Gelegenheit ging ihm während der leipziger Ostermesse eine Kiste ver¬
loren, die er von Wolfenbüttel nach einer Mittheilung des Hauptmanns
v. Blankenburg aus dem Jahre 1784 bis Dresden, nach Lessings Bruder aber
bis Wien mitgenommen und von dort zurückgeschickt hatte, und in welcher sich
unter andern werthvollen Manuskripten, einer Anzahl neuer Fabeln und einer
fast vollendeten Abhandlung über die Herstellung eines deutsche» Wörterbuches,
auch die beiden Faustdramen befunden zu haben scheinen, v. Blankenburg be¬
hauptet dies mit Bestimmtheit und gibt dann einige Andeutungen über den
Gang des einen Stückes. Es begann nach ihm mit einer Zusammenkunft
höllischer Geister, bei welcher die Unterteufel ihrem Obersten Rechenschaft von
ihrem Thun aus Erden ablegten. Der letzte derselben berichtete, daß er wenigstens
einen Mann gefunden, dem gar nicht beizukommen sei, da er gar keine Leiden¬
schaft oder Schwäche, sondern nur einen unauslöschlichen Durst nach Kenntniß
und Wissen habe. Ha! ruft der Teufel aus, dann ist er mein und sicherer
mein als bei jeder andern Leidenschaft. Nun erhält Mephistopheles den Auf¬
trag, denselben zu fangen, und Anweisung, wie er dabei zu verfahren habe,
und in den folgenden Alten beginnt er sein Werk und vollendet es dem An-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/450>, abgerufen am 23.07.2024.