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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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erhebt sich der schwarze Kegel des Madatsch, überragt von der strahlenden
Kuppel des Ortler; tief unten, auf der Thalsohle, im grünen Nadelholz ver¬
steckt, die Kapelle zu den drei Brunnen. Dazu diese wunderbare Stille, unter¬
brochen nur durch das Rauschen der Gletscherbäche, durch das Gezwitscher der
schaarenweise über die Berge ziehenden Wandervogel, durch den gellenden
Schrei des Adlers, der hoch in den Lüften kreist. Wiederum ein Segen des
Herbstes kein anderer Tourist tritt dir belästigend in den Weg; auch die Post,
die im Sommer über den Stelvio geht, ist bereits eingestellt. Du hast das
Gefühl, als wären alle diese Wunder für Dich ganz allein geschaffen. -- Als
ich am Abend, in das Etschthal zurückgekehrt, vom Balkon meines Zimmers
in dem einsamen Gasthause Neu-Spondinig aus noch lange Zeit nach den vom
klaren Mvndhimmel scharf sich abhebenden Ortlerbergen hinüberschaute, war
ich mir bewußt, einen der schönsten Tage verlebt zu haben, die das menschliche
Dasein zu bieten vermag.




Ms dem Maß.

Während unsere klerikalen Deputirten in Berlin jammern und wehklagen
über die Verderbnis; der Sitten und die Bosheit der Menschheit im Allgemeinen
und in dem hartgeprüften Reichslande im Speziellen und nicht müde werden
des Lmnentirens und Predigens, macht sich im Lande selbst eine Bewegung
geltend, die wohl berücksichtigt zu werden verdient, die aber weit entfernt ist,
den geistlichen Herren und ihren Deklamationen als Folie zu dienen. Es
scheint in der That, daß die Neuwahlen von 1877 uns ganz andere Resultate
bringen werden, als die von 1874. In allen Wahlkreisen rührt und regt es
sich. Man stellt Kandidaten auf, entwickelt Programme und zeigt überhaupt
ein lebendiges Interesse für die bevorstehenden Reichstagswahlen, das dem für
die kurzverflofsenen Gemeinde- und Bezirksrathswahlen in Nichts nachgiebt.

Mag man nun auch vorläufig über diese in den meisten Wahlkreisen
sichtlich hervortretende Bewegung denken wie man will -- sicher ist das Eine,
daß wenigstens das Elsaß sich an den Neuwahlen zu Anfang des nächsten
Jahres in hervorragender Weise betheiligen wird und daß, so nicht alle Zeichen
trügen, diese Wahlen selbst einen wesentlich andern Charakter tragen werden,
als vor drei Jahren. Galt es damals, den Wühlern und ihre" Kandidaten


erhebt sich der schwarze Kegel des Madatsch, überragt von der strahlenden
Kuppel des Ortler; tief unten, auf der Thalsohle, im grünen Nadelholz ver¬
steckt, die Kapelle zu den drei Brunnen. Dazu diese wunderbare Stille, unter¬
brochen nur durch das Rauschen der Gletscherbäche, durch das Gezwitscher der
schaarenweise über die Berge ziehenden Wandervogel, durch den gellenden
Schrei des Adlers, der hoch in den Lüften kreist. Wiederum ein Segen des
Herbstes kein anderer Tourist tritt dir belästigend in den Weg; auch die Post,
die im Sommer über den Stelvio geht, ist bereits eingestellt. Du hast das
Gefühl, als wären alle diese Wunder für Dich ganz allein geschaffen. — Als
ich am Abend, in das Etschthal zurückgekehrt, vom Balkon meines Zimmers
in dem einsamen Gasthause Neu-Spondinig aus noch lange Zeit nach den vom
klaren Mvndhimmel scharf sich abhebenden Ortlerbergen hinüberschaute, war
ich mir bewußt, einen der schönsten Tage verlebt zu haben, die das menschliche
Dasein zu bieten vermag.




Ms dem Maß.

Während unsere klerikalen Deputirten in Berlin jammern und wehklagen
über die Verderbnis; der Sitten und die Bosheit der Menschheit im Allgemeinen
und in dem hartgeprüften Reichslande im Speziellen und nicht müde werden
des Lmnentirens und Predigens, macht sich im Lande selbst eine Bewegung
geltend, die wohl berücksichtigt zu werden verdient, die aber weit entfernt ist,
den geistlichen Herren und ihren Deklamationen als Folie zu dienen. Es
scheint in der That, daß die Neuwahlen von 1877 uns ganz andere Resultate
bringen werden, als die von 1874. In allen Wahlkreisen rührt und regt es
sich. Man stellt Kandidaten auf, entwickelt Programme und zeigt überhaupt
ein lebendiges Interesse für die bevorstehenden Reichstagswahlen, das dem für
die kurzverflofsenen Gemeinde- und Bezirksrathswahlen in Nichts nachgiebt.

Mag man nun auch vorläufig über diese in den meisten Wahlkreisen
sichtlich hervortretende Bewegung denken wie man will — sicher ist das Eine,
daß wenigstens das Elsaß sich an den Neuwahlen zu Anfang des nächsten
Jahres in hervorragender Weise betheiligen wird und daß, so nicht alle Zeichen
trügen, diese Wahlen selbst einen wesentlich andern Charakter tragen werden,
als vor drei Jahren. Galt es damals, den Wühlern und ihre« Kandidaten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/40>, abgerufen am 23.07.2024.