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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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heimzieht; denn obwohl er sich alle Mühe gab, er konnte nicht sterben, und
nirgendwo war seines Bleibens.

So weit unser Frater aus dein Salvatvrklvster. Andere fromme Leute in
Jerusalem können uns mehr erzählen. Die meisten sagen, der unbarmherzige
Mensch habe Ahnsverus geheißen, andere nennen ihn Kartaphilus und lassen
ihn die Stelle eines Thürstehers des Hohenpriesters bekleidet haben. Vergebens
suchte er bei der Erstürmung der heiligen Stadt unter den Wurfspießen und
Schwertern der eindringenden Legionen den Tod; er trug nicht einmal eine
Wunde davon. Umsonst trat er in mehreren arabischen Jndenstädten Muhamed
entgegen; was hier uicht im Kampfe siel, wurde hingerichtet, nnr er blieb ver¬
schont. Ebenso wenig erfüllte sich sein sehnlicher Wunsch zu sterben in den
Kriegen der Kreuzfahrer mit den Sarazenen. Er bot sich der Pest dar, und
sie mochte ihn nicht. Er sprang in tiefe Abgründe und verstauchte sich nicht
einmal ein Glied. Er verschluckte Gift in solcher Meuge, daß ein Stier davon
auf der Stelle den Tod gehabt hätte, und siehe da, es focht ihn nicht an. Als
die Eisenbahnen aufkamen, warf er sich unter den ersten Zug, der ihm be¬
gegnete, und der Zug rollte über ihn weg, ohne ihm auch nur einen Finger
zu beschädigen. Da gab er's endlich auf. An die Stelle der Beharrlichkeit
bei diesen Selbstmordversuchen traten Ergebung und Entsagung. Gleichgültig,
theilnahmlos gegen Alles, ohne Hoffnung wanderte er durch die Lande, vom
Aufgang bis zum Niedergang der Sonne, von den Quellen des Nil bis nach
Thule hinauf; nirgends länger als eine Nacht rastend, ist er häufig auch in
Deutschland gesehen worden. Nur eins kann er nicht umgehen: mag er reisen,
wohin es ihm beliebt, alle fünfzig Jahre muß er sich in Jerusalem einstellen,
und zwar immer an dem Tage, wo er sich so gröblich gegen den Sohn Gottes
vergangen hat. Erst vor etwa vierzig Jahren soll er zum sechsuuddreißigsten
Male als verwitterter, hohläugiger Weißbart dort erschienen sein. Er vergießt
dann vor der Schwelle seines Hauses ein paar Thränen, klopft an und läßt
sich, wie Mark Twain gehört haben will, von den jetzigen Bewohnern seines
Grundstücks -- die Miethe bezahlen. In sternenhellen Nächten hat man ihn vor
der Kirche des heiligen Grabes stehen sehen; denn seit einiger Zeit ist er auf
die Idee gekommen, daß er Ruhe finden würde, wenn er dort hineingelangen
könnte. Aber auch mit dieser Hoffmmg hat er sich getäuscht; denn sobald er
sich nähert, schlagen die Thüren mit Krachen zu. Trotzdem macht er den
Versuch immer von Neuem; es ist ein aussichtsloses Beginnen, aber andrer¬
seits ist es schwer, sich einer Gewohnheit zu entschlagen, die man schon seit
Jahrhunderten an sich gehabt hat.

So erzählt man den Reisenden in der heiligen Stadt, wo die Wiege des
ewigen Juden stand oder -- wo sie vielmehr nicht stand. Denn wir werden


heimzieht; denn obwohl er sich alle Mühe gab, er konnte nicht sterben, und
nirgendwo war seines Bleibens.

So weit unser Frater aus dein Salvatvrklvster. Andere fromme Leute in
Jerusalem können uns mehr erzählen. Die meisten sagen, der unbarmherzige
Mensch habe Ahnsverus geheißen, andere nennen ihn Kartaphilus und lassen
ihn die Stelle eines Thürstehers des Hohenpriesters bekleidet haben. Vergebens
suchte er bei der Erstürmung der heiligen Stadt unter den Wurfspießen und
Schwertern der eindringenden Legionen den Tod; er trug nicht einmal eine
Wunde davon. Umsonst trat er in mehreren arabischen Jndenstädten Muhamed
entgegen; was hier uicht im Kampfe siel, wurde hingerichtet, nnr er blieb ver¬
schont. Ebenso wenig erfüllte sich sein sehnlicher Wunsch zu sterben in den
Kriegen der Kreuzfahrer mit den Sarazenen. Er bot sich der Pest dar, und
sie mochte ihn nicht. Er sprang in tiefe Abgründe und verstauchte sich nicht
einmal ein Glied. Er verschluckte Gift in solcher Meuge, daß ein Stier davon
auf der Stelle den Tod gehabt hätte, und siehe da, es focht ihn nicht an. Als
die Eisenbahnen aufkamen, warf er sich unter den ersten Zug, der ihm be¬
gegnete, und der Zug rollte über ihn weg, ohne ihm auch nur einen Finger
zu beschädigen. Da gab er's endlich auf. An die Stelle der Beharrlichkeit
bei diesen Selbstmordversuchen traten Ergebung und Entsagung. Gleichgültig,
theilnahmlos gegen Alles, ohne Hoffnung wanderte er durch die Lande, vom
Aufgang bis zum Niedergang der Sonne, von den Quellen des Nil bis nach
Thule hinauf; nirgends länger als eine Nacht rastend, ist er häufig auch in
Deutschland gesehen worden. Nur eins kann er nicht umgehen: mag er reisen,
wohin es ihm beliebt, alle fünfzig Jahre muß er sich in Jerusalem einstellen,
und zwar immer an dem Tage, wo er sich so gröblich gegen den Sohn Gottes
vergangen hat. Erst vor etwa vierzig Jahren soll er zum sechsuuddreißigsten
Male als verwitterter, hohläugiger Weißbart dort erschienen sein. Er vergießt
dann vor der Schwelle seines Hauses ein paar Thränen, klopft an und läßt
sich, wie Mark Twain gehört haben will, von den jetzigen Bewohnern seines
Grundstücks — die Miethe bezahlen. In sternenhellen Nächten hat man ihn vor
der Kirche des heiligen Grabes stehen sehen; denn seit einiger Zeit ist er auf
die Idee gekommen, daß er Ruhe finden würde, wenn er dort hineingelangen
könnte. Aber auch mit dieser Hoffmmg hat er sich getäuscht; denn sobald er
sich nähert, schlagen die Thüren mit Krachen zu. Trotzdem macht er den
Versuch immer von Neuem; es ist ein aussichtsloses Beginnen, aber andrer¬
seits ist es schwer, sich einer Gewohnheit zu entschlagen, die man schon seit
Jahrhunderten an sich gehabt hat.

So erzählt man den Reisenden in der heiligen Stadt, wo die Wiege des
ewigen Juden stand oder — wo sie vielmehr nicht stand. Denn wir werden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/343>, abgerufen am 23.07.2024.