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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Tode abging, nachdem sie Mutter von siebenunddreißig Kindern geworden war.
Agnes Milbourne brachte es im Punkte der Kinder fast ebensoweit und in
Betreff des Alters weiter. Sie hatte von einem Manne 29 Söhne und eine
Tochter, die sie allesammt überlebt hatte, als sie 106 Jahre alt im Armen¬
hause starb. Im Jahre 1805 schied in Westindien eine Fran Mills in ihrem
hundertundachtzehnten Jahre aus der Welt, und als man sie begrub, folgten
ihrem Sarge 295 Kinder, Enkel und Urenkel, von denen 60 zu einem dortigen
Milizregimente gehörten.

Die fernere Betrachtung unserer Urgreise läßt uns -- immer vorausgesetzt,
daß wir es in den betreffenden Berichten mit der Wahrheit zu thun haben
-- die Bemerkung machen, daß ganze Familien mit Langlebigkeit begabt ge¬
wesen sind, und daß diese Eigenschaft in einigen Fällen erblich aufgetreten ist.
Dies erscheint eben nicht wunderbar. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Die Vererbung und Uebertragung der Fähigkeit zu langem Leben wird Jedem
ungefähr so natürlich vorkommen als das Forterben von Gemüthsanlagen,
z. B. Jähzorn oder Schwermuth, von Charakterzügen, von körperlichen Schön¬
heiten oder Mängeln, von Gebrechen und Krankheiten vom Vater auf den
Sohn und vom Sohn auf den Enkel. Sehr oft sieht ein Mensch "seinem
Vater" oder "seiner Mutter wie aus den Augen geschnitten" ans, häufig hat
er genau die Nase oder die Mundbildung eines von seinen Eltern oder den
Gang seines Vaters oder Großvaters. Gewisse Manieren verpflanzen sich von
Glied zu Glied, das Temperament kommt wieder, die oder jene Liebhaberei,
der Trieb zum Sammeln, die Passion für Bücher, für die Jagd, für Blumen,
Geiz oder Freigebigkeit u. s. w. Die Nachbaren behaupten, die Familienüber-
lieferung oder die Bilder des Ahuensaales bezeugen es. Warum sollte der
Langlebige nicht auch seine starke und zähe Widerstandsfähigkeit gegen die
schädlichen Einflüsse fortpflanzen können, die das Leben bedrohen? In der That
giebt es einige Beispiele, welche dies bejahen lassen, und wenn es nicht die Regel
ist, so sind aller Wahrscheinlichkeit nach verhängnißvolle Unfälle daran schuld,
welche den Nachkommen langlebiger Väter den Lebensfaden vor der Zeit ab¬
schnitten, die sie die Nntnr erleben lassen wollte. 1722 starb in Gloueester-
shire eine Fran Kiethe, welche drei Töchter, eine von hundertelf, eine von
hundertzehn und eine von hundertneun Jahren hinterließ, während sie selbst
das hohe Alter von hundertunddreißig Jahren erreicht hatte -- wenn wir
unserer Quelle Glauben beimessen dürfen. Ein ganz besonders merkwürdiger
Fall forterbender Langlebigkeit aber ist die Familie des bereits erwähnten
Thomas Parr, der beiläufig in der Westminster - Abtey begraben liegt. Als
der "alte Parr" zum zweiten Male Hochzeit machte, war er ein Bräutigam
von 120 Jahren. Wie alt seine Töchter geworden sind, wissen wir nicht. Im


Tode abging, nachdem sie Mutter von siebenunddreißig Kindern geworden war.
Agnes Milbourne brachte es im Punkte der Kinder fast ebensoweit und in
Betreff des Alters weiter. Sie hatte von einem Manne 29 Söhne und eine
Tochter, die sie allesammt überlebt hatte, als sie 106 Jahre alt im Armen¬
hause starb. Im Jahre 1805 schied in Westindien eine Fran Mills in ihrem
hundertundachtzehnten Jahre aus der Welt, und als man sie begrub, folgten
ihrem Sarge 295 Kinder, Enkel und Urenkel, von denen 60 zu einem dortigen
Milizregimente gehörten.

Die fernere Betrachtung unserer Urgreise läßt uns — immer vorausgesetzt,
daß wir es in den betreffenden Berichten mit der Wahrheit zu thun haben
— die Bemerkung machen, daß ganze Familien mit Langlebigkeit begabt ge¬
wesen sind, und daß diese Eigenschaft in einigen Fällen erblich aufgetreten ist.
Dies erscheint eben nicht wunderbar. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Die Vererbung und Uebertragung der Fähigkeit zu langem Leben wird Jedem
ungefähr so natürlich vorkommen als das Forterben von Gemüthsanlagen,
z. B. Jähzorn oder Schwermuth, von Charakterzügen, von körperlichen Schön¬
heiten oder Mängeln, von Gebrechen und Krankheiten vom Vater auf den
Sohn und vom Sohn auf den Enkel. Sehr oft sieht ein Mensch „seinem
Vater" oder „seiner Mutter wie aus den Augen geschnitten" ans, häufig hat
er genau die Nase oder die Mundbildung eines von seinen Eltern oder den
Gang seines Vaters oder Großvaters. Gewisse Manieren verpflanzen sich von
Glied zu Glied, das Temperament kommt wieder, die oder jene Liebhaberei,
der Trieb zum Sammeln, die Passion für Bücher, für die Jagd, für Blumen,
Geiz oder Freigebigkeit u. s. w. Die Nachbaren behaupten, die Familienüber-
lieferung oder die Bilder des Ahuensaales bezeugen es. Warum sollte der
Langlebige nicht auch seine starke und zähe Widerstandsfähigkeit gegen die
schädlichen Einflüsse fortpflanzen können, die das Leben bedrohen? In der That
giebt es einige Beispiele, welche dies bejahen lassen, und wenn es nicht die Regel
ist, so sind aller Wahrscheinlichkeit nach verhängnißvolle Unfälle daran schuld,
welche den Nachkommen langlebiger Väter den Lebensfaden vor der Zeit ab¬
schnitten, die sie die Nntnr erleben lassen wollte. 1722 starb in Gloueester-
shire eine Fran Kiethe, welche drei Töchter, eine von hundertelf, eine von
hundertzehn und eine von hundertneun Jahren hinterließ, während sie selbst
das hohe Alter von hundertunddreißig Jahren erreicht hatte — wenn wir
unserer Quelle Glauben beimessen dürfen. Ein ganz besonders merkwürdiger
Fall forterbender Langlebigkeit aber ist die Familie des bereits erwähnten
Thomas Parr, der beiläufig in der Westminster - Abtey begraben liegt. Als
der „alte Parr" zum zweiten Male Hochzeit machte, war er ein Bräutigam
von 120 Jahren. Wie alt seine Töchter geworden sind, wissen wir nicht. Im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/300>, abgerufen am 23.07.2024.