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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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das Centrum, um mehr als das doppelte überragend. Die Fortschrittspartei
hält numerisch der gesammten Rechten die Wage.

Am Beginn der Sessionen und ganz besonders der Legislaturperioden
Pflegt die erste Kraftprobe der Parteien die Präsidentenwahl zu sein. Dies¬
mal trug sie einen außergewöhnlich interessanten Charakter. In der abge¬
laufenen Legislaturperiode war der Präsident der nationalliberalen Partei, der
erste Vieepräsident der Fortschrittspartei, der zweite der freiconservativen Par¬
tei entnommen. Das Centrum, welches seiner Mitgliederzahl nach die An¬
wartschaft auf die erste Vieepräsideutenstelle gehabt hätte, blieb als nichtpo¬
litische und obendrein die Souveränetät des Staates leugnende Partei unbe¬
rücksichtigt. In dem Stärkeverhältuiß der Fraktionen des neuen Hauses lag
kein Grund, von der bisherigen Praxis abzugehen. Aber der eben beendete
Reichstagswahlkampf, insbesondere die unerhörten Angriffe der Fortschritts¬
partei gegen die Nationalliberalen, konnten auf die Stellung der Parteien im
Landtage nicht ohne Rückwirkung bleiben. Einen Augenblick hieß es. die
Natioualliberalen wollten an der bisher befreundeten Nachbarfraetion durch
vollständige Ausschließung derselben vom Präsidium Rache nehmen. Sehr bald
jedoch gewann die ruhige Ueberlegung die Oberhand. Nach der bisherigen
Uebung hätte die Ausschließung nur dann als berechtigt gelten können, wenn
der politische Charakter der Fortschrittspartei eine ähnliche grundsätzliche
Staatsfeindlichkeit aufwiese, wie derjenige des Centrums. Der gerecht Ur¬
theilende wird bei aller Antipathie gegen den verblendeten Doktrinarismus der
Fortschrittler zugeben, daß dies nicht der Fall ist. Alsdann aber wäre die
Ausschließung ein Act der Fractionsrancüne gewesen, und diese wird eine große
Partei verschmähen. Was die Nationalliberalen ihrer Ehre schuldeten, war, daß sie
der Fortschrittspartei zur Bedingung stellten, zum ersten Vicepräsidenten nicht einen
der Männer vorzuschlagen, welche die obenerwähnten Augriffe begonueuund während
des Kampfes geleitet hatten, also auch uicht deu bisherigen Inhaber des Postens,
Herrn Hänel. Die Heißsporne der Fortschrittspartei betrachteten die Ablehnung
dieser Bedingung als selbstverständlich; sie zeigten nicht übel Lust, ihrem Kieler
Genossen im Abgeordnetenhause dasselbe Schicksal zu bereiten, wie kurz zuvor
im Reichstage. Herr Hänel selbst scheint aber an einer Wiederholung dieser
Komödie kein Gefallen gefunden zu haben, und so entschloß man sich nach
einer heißen Debatte im Schoße der Fraction, den von nationalliberaler
Seite von vorneherein als genehm bezeichneten Herrn Klotz zu präsentiren.
Hinterher wurde dann der Versuch gemacht, diese" Rückzug zu beschönigen,
sogar zu leugnen; freilich ohne Erfolg.

Konservative und gouvernementale Preßvrgane haben den Vorgängen bei
der Präsidentenwahl eine Bedeutung beigelegt, die sie nicht verdienen. Ganz


das Centrum, um mehr als das doppelte überragend. Die Fortschrittspartei
hält numerisch der gesammten Rechten die Wage.

Am Beginn der Sessionen und ganz besonders der Legislaturperioden
Pflegt die erste Kraftprobe der Parteien die Präsidentenwahl zu sein. Dies¬
mal trug sie einen außergewöhnlich interessanten Charakter. In der abge¬
laufenen Legislaturperiode war der Präsident der nationalliberalen Partei, der
erste Vieepräsident der Fortschrittspartei, der zweite der freiconservativen Par¬
tei entnommen. Das Centrum, welches seiner Mitgliederzahl nach die An¬
wartschaft auf die erste Vieepräsideutenstelle gehabt hätte, blieb als nichtpo¬
litische und obendrein die Souveränetät des Staates leugnende Partei unbe¬
rücksichtigt. In dem Stärkeverhältuiß der Fraktionen des neuen Hauses lag
kein Grund, von der bisherigen Praxis abzugehen. Aber der eben beendete
Reichstagswahlkampf, insbesondere die unerhörten Angriffe der Fortschritts¬
partei gegen die Nationalliberalen, konnten auf die Stellung der Parteien im
Landtage nicht ohne Rückwirkung bleiben. Einen Augenblick hieß es. die
Natioualliberalen wollten an der bisher befreundeten Nachbarfraetion durch
vollständige Ausschließung derselben vom Präsidium Rache nehmen. Sehr bald
jedoch gewann die ruhige Ueberlegung die Oberhand. Nach der bisherigen
Uebung hätte die Ausschließung nur dann als berechtigt gelten können, wenn
der politische Charakter der Fortschrittspartei eine ähnliche grundsätzliche
Staatsfeindlichkeit aufwiese, wie derjenige des Centrums. Der gerecht Ur¬
theilende wird bei aller Antipathie gegen den verblendeten Doktrinarismus der
Fortschrittler zugeben, daß dies nicht der Fall ist. Alsdann aber wäre die
Ausschließung ein Act der Fractionsrancüne gewesen, und diese wird eine große
Partei verschmähen. Was die Nationalliberalen ihrer Ehre schuldeten, war, daß sie
der Fortschrittspartei zur Bedingung stellten, zum ersten Vicepräsidenten nicht einen
der Männer vorzuschlagen, welche die obenerwähnten Augriffe begonueuund während
des Kampfes geleitet hatten, also auch uicht deu bisherigen Inhaber des Postens,
Herrn Hänel. Die Heißsporne der Fortschrittspartei betrachteten die Ablehnung
dieser Bedingung als selbstverständlich; sie zeigten nicht übel Lust, ihrem Kieler
Genossen im Abgeordnetenhause dasselbe Schicksal zu bereiten, wie kurz zuvor
im Reichstage. Herr Hänel selbst scheint aber an einer Wiederholung dieser
Komödie kein Gefallen gefunden zu haben, und so entschloß man sich nach
einer heißen Debatte im Schoße der Fraction, den von nationalliberaler
Seite von vorneherein als genehm bezeichneten Herrn Klotz zu präsentiren.
Hinterher wurde dann der Versuch gemacht, diese« Rückzug zu beschönigen,
sogar zu leugnen; freilich ohne Erfolg.

Konservative und gouvernementale Preßvrgane haben den Vorgängen bei
der Präsidentenwahl eine Bedeutung beigelegt, die sie nicht verdienen. Ganz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/243>, abgerufen am 23.07.2024.