Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ohne einen allgemeinen Plan, ohne die Tendenz, die entthronten einheimischen
Fürsten zu installiren, doch rasch durch den größeren Theil der eingebornen
Armee und des Landes sich verbreitete. Der noch lebende Sohn des letzten
Groß-Moguls wurde zwar von den Aufständischen in die alte Würde eingesetzt,
doch das war ohne Bedeutung, die ganze Bewegung war ohne Zusammenhang.
Die Ursachen der Empörung lagen zum Theil in einer langen Mißregierung
des Landes; starker Steuerdruck, Barbareien einzelner Beamten und politische
Mißgriffe hatten die Einzelnen aufgereizt. Dazu kam ein durch britische
Neuerungen angefachter Geist religiöser Erregung und Unzufriedenheit, der
namentlich in der ganz aus Hindus bestehenden Bengal-Armee Fortschritte
machte. Die Abschaffung der Wittwen-Verbrennung, das Verbot des Kinder¬
mordes, die Einführung der Impfung, die Gestattung der Wiederverheirathung
der Wittwen, die Errichtung von Schulen für das weibliche Geschlecht hatten
Ansehen und Einfluß der Priesterkaste -- der Brachmanen -- erschüttert. Gleich¬
zeitig liefen Prophezeiungen durch das Laud, daß die Herrschaft der Brahmanen
ihrem Ende nahe; das einzige Mittel der Rettung sei der Kampf gegen den
gemeinsamen Feind. Der Ausbruch der Empörung traf die Europäer ganz
unvorbereitet, fast Niemand erkannte die Bedeutung derselben und trat ihr
energisch entgegen. An vielen Orten schworen ans die Nachricht von in anderen
Garnisonen ausgebrochenen Empörungen die Eingebornen - Regimenter ihren
vertrauenden Offizieren feierlich Treue, um sie am nächsten Tage schon nebst
Frauen und Kindern zu ermorden. Ein Theil der Armee blieb treu, darunter
die mit großem Mißtraue" betrachteten Gurka - Regimenter und die durch
stramme Disciplin ausgezeichnete Armee von Bombay, bei deren Rekrutirung
nieder auf Religion noch auf Kaste Rücksicht genommen war. Dem Vordringen
des Aufstandes "ach dem Süden der Halbinsel setzten nicht Engländer, sondern
die treue Haltung eiues wesentlich mohamedanischen Eingebornen-Staates einen
Damm entgegen. Es war Sir Salar Jung, der Premier-Minister und
Regent von Haidarabad, der mit großer Energie jeden Versuch zum Aufstände
unterdrückte. Es kam zu deu erbittertsten Kämpfen, die entsetzlichsten Greuel-
thaten wurden verübt, und an zwei Jahre dauerte das fortwährende Ringen,
bis es endlich den Neuangekommenen englischen Truppen gelang, den Aufstand
niederzuwerfen. Durchaus treu auch war die Haltung der zuletzt unter¬
worfenen Sikhs geblieben.

Mit dem Aufstande war auch die souveräne Macht der ostindischen Com¬
pagnie zu Grabe gegangen. Zufolge der "Akte für eine bessere Regierung
Indiens"*) vom2. August 1858 gingen alle Rechte und Befugnisse



') ""n !we l'all- du" de>leur Kovki'unent n5 Imaum"

ohne einen allgemeinen Plan, ohne die Tendenz, die entthronten einheimischen
Fürsten zu installiren, doch rasch durch den größeren Theil der eingebornen
Armee und des Landes sich verbreitete. Der noch lebende Sohn des letzten
Groß-Moguls wurde zwar von den Aufständischen in die alte Würde eingesetzt,
doch das war ohne Bedeutung, die ganze Bewegung war ohne Zusammenhang.
Die Ursachen der Empörung lagen zum Theil in einer langen Mißregierung
des Landes; starker Steuerdruck, Barbareien einzelner Beamten und politische
Mißgriffe hatten die Einzelnen aufgereizt. Dazu kam ein durch britische
Neuerungen angefachter Geist religiöser Erregung und Unzufriedenheit, der
namentlich in der ganz aus Hindus bestehenden Bengal-Armee Fortschritte
machte. Die Abschaffung der Wittwen-Verbrennung, das Verbot des Kinder¬
mordes, die Einführung der Impfung, die Gestattung der Wiederverheirathung
der Wittwen, die Errichtung von Schulen für das weibliche Geschlecht hatten
Ansehen und Einfluß der Priesterkaste — der Brachmanen — erschüttert. Gleich¬
zeitig liefen Prophezeiungen durch das Laud, daß die Herrschaft der Brahmanen
ihrem Ende nahe; das einzige Mittel der Rettung sei der Kampf gegen den
gemeinsamen Feind. Der Ausbruch der Empörung traf die Europäer ganz
unvorbereitet, fast Niemand erkannte die Bedeutung derselben und trat ihr
energisch entgegen. An vielen Orten schworen ans die Nachricht von in anderen
Garnisonen ausgebrochenen Empörungen die Eingebornen - Regimenter ihren
vertrauenden Offizieren feierlich Treue, um sie am nächsten Tage schon nebst
Frauen und Kindern zu ermorden. Ein Theil der Armee blieb treu, darunter
die mit großem Mißtraue» betrachteten Gurka - Regimenter und die durch
stramme Disciplin ausgezeichnete Armee von Bombay, bei deren Rekrutirung
nieder auf Religion noch auf Kaste Rücksicht genommen war. Dem Vordringen
des Aufstandes «ach dem Süden der Halbinsel setzten nicht Engländer, sondern
die treue Haltung eiues wesentlich mohamedanischen Eingebornen-Staates einen
Damm entgegen. Es war Sir Salar Jung, der Premier-Minister und
Regent von Haidarabad, der mit großer Energie jeden Versuch zum Aufstände
unterdrückte. Es kam zu deu erbittertsten Kämpfen, die entsetzlichsten Greuel-
thaten wurden verübt, und an zwei Jahre dauerte das fortwährende Ringen,
bis es endlich den Neuangekommenen englischen Truppen gelang, den Aufstand
niederzuwerfen. Durchaus treu auch war die Haltung der zuletzt unter¬
worfenen Sikhs geblieben.

Mit dem Aufstande war auch die souveräne Macht der ostindischen Com¬
pagnie zu Grabe gegangen. Zufolge der „Akte für eine bessere Regierung
Indiens"*) vom2. August 1858 gingen alle Rechte und Befugnisse



') ««n !we l'all- du« de>leur Kovki'unent n5 Imaum"
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0215" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137388"/>
          <p xml:id="ID_723" prev="#ID_722"> ohne einen allgemeinen Plan, ohne die Tendenz, die entthronten einheimischen<lb/>
Fürsten zu installiren, doch rasch durch den größeren Theil der eingebornen<lb/>
Armee und des Landes sich verbreitete. Der noch lebende Sohn des letzten<lb/>
Groß-Moguls wurde zwar von den Aufständischen in die alte Würde eingesetzt,<lb/>
doch das war ohne Bedeutung, die ganze Bewegung war ohne Zusammenhang.<lb/>
Die Ursachen der Empörung lagen zum Theil in einer langen Mißregierung<lb/>
des Landes; starker Steuerdruck, Barbareien einzelner Beamten und politische<lb/>
Mißgriffe hatten die Einzelnen aufgereizt. Dazu kam ein durch britische<lb/>
Neuerungen angefachter Geist religiöser Erregung und Unzufriedenheit, der<lb/>
namentlich in der ganz aus Hindus bestehenden Bengal-Armee Fortschritte<lb/>
machte. Die Abschaffung der Wittwen-Verbrennung, das Verbot des Kinder¬<lb/>
mordes, die Einführung der Impfung, die Gestattung der Wiederverheirathung<lb/>
der Wittwen, die Errichtung von Schulen für das weibliche Geschlecht hatten<lb/>
Ansehen und Einfluß der Priesterkaste &#x2014; der Brachmanen &#x2014; erschüttert. Gleich¬<lb/>
zeitig liefen Prophezeiungen durch das Laud, daß die Herrschaft der Brahmanen<lb/>
ihrem Ende nahe; das einzige Mittel der Rettung sei der Kampf gegen den<lb/>
gemeinsamen Feind. Der Ausbruch der Empörung traf die Europäer ganz<lb/>
unvorbereitet, fast Niemand erkannte die Bedeutung derselben und trat ihr<lb/>
energisch entgegen. An vielen Orten schworen ans die Nachricht von in anderen<lb/>
Garnisonen ausgebrochenen Empörungen die Eingebornen - Regimenter ihren<lb/>
vertrauenden Offizieren feierlich Treue, um sie am nächsten Tage schon nebst<lb/>
Frauen und Kindern zu ermorden. Ein Theil der Armee blieb treu, darunter<lb/>
die mit großem Mißtraue» betrachteten Gurka - Regimenter und die durch<lb/>
stramme Disciplin ausgezeichnete Armee von Bombay, bei deren Rekrutirung<lb/>
nieder auf Religion noch auf Kaste Rücksicht genommen war. Dem Vordringen<lb/>
des Aufstandes «ach dem Süden der Halbinsel setzten nicht Engländer, sondern<lb/>
die treue Haltung eiues wesentlich mohamedanischen Eingebornen-Staates einen<lb/>
Damm entgegen. Es war Sir Salar Jung, der Premier-Minister und<lb/>
Regent von Haidarabad, der mit großer Energie jeden Versuch zum Aufstände<lb/>
unterdrückte. Es kam zu deu erbittertsten Kämpfen, die entsetzlichsten Greuel-<lb/>
thaten wurden verübt, und an zwei Jahre dauerte das fortwährende Ringen,<lb/>
bis es endlich den Neuangekommenen englischen Truppen gelang, den Aufstand<lb/>
niederzuwerfen. Durchaus treu auch war die Haltung der zuletzt unter¬<lb/>
worfenen Sikhs geblieben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_724" next="#ID_725"> Mit dem Aufstande war auch die souveräne Macht der ostindischen Com¬<lb/>
pagnie zu Grabe gegangen. Zufolge der &#x201E;Akte für eine bessere Regierung<lb/>
Indiens"*) vom2. August 1858 gingen alle Rechte und Befugnisse</p><lb/>
          <note xml:id="FID_23" place="foot"> ') ««n !we l'all- du« de&gt;leur Kovki'unent n5 Imaum"</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0215] ohne einen allgemeinen Plan, ohne die Tendenz, die entthronten einheimischen Fürsten zu installiren, doch rasch durch den größeren Theil der eingebornen Armee und des Landes sich verbreitete. Der noch lebende Sohn des letzten Groß-Moguls wurde zwar von den Aufständischen in die alte Würde eingesetzt, doch das war ohne Bedeutung, die ganze Bewegung war ohne Zusammenhang. Die Ursachen der Empörung lagen zum Theil in einer langen Mißregierung des Landes; starker Steuerdruck, Barbareien einzelner Beamten und politische Mißgriffe hatten die Einzelnen aufgereizt. Dazu kam ein durch britische Neuerungen angefachter Geist religiöser Erregung und Unzufriedenheit, der namentlich in der ganz aus Hindus bestehenden Bengal-Armee Fortschritte machte. Die Abschaffung der Wittwen-Verbrennung, das Verbot des Kinder¬ mordes, die Einführung der Impfung, die Gestattung der Wiederverheirathung der Wittwen, die Errichtung von Schulen für das weibliche Geschlecht hatten Ansehen und Einfluß der Priesterkaste — der Brachmanen — erschüttert. Gleich¬ zeitig liefen Prophezeiungen durch das Laud, daß die Herrschaft der Brahmanen ihrem Ende nahe; das einzige Mittel der Rettung sei der Kampf gegen den gemeinsamen Feind. Der Ausbruch der Empörung traf die Europäer ganz unvorbereitet, fast Niemand erkannte die Bedeutung derselben und trat ihr energisch entgegen. An vielen Orten schworen ans die Nachricht von in anderen Garnisonen ausgebrochenen Empörungen die Eingebornen - Regimenter ihren vertrauenden Offizieren feierlich Treue, um sie am nächsten Tage schon nebst Frauen und Kindern zu ermorden. Ein Theil der Armee blieb treu, darunter die mit großem Mißtraue» betrachteten Gurka - Regimenter und die durch stramme Disciplin ausgezeichnete Armee von Bombay, bei deren Rekrutirung nieder auf Religion noch auf Kaste Rücksicht genommen war. Dem Vordringen des Aufstandes «ach dem Süden der Halbinsel setzten nicht Engländer, sondern die treue Haltung eiues wesentlich mohamedanischen Eingebornen-Staates einen Damm entgegen. Es war Sir Salar Jung, der Premier-Minister und Regent von Haidarabad, der mit großer Energie jeden Versuch zum Aufstände unterdrückte. Es kam zu deu erbittertsten Kämpfen, die entsetzlichsten Greuel- thaten wurden verübt, und an zwei Jahre dauerte das fortwährende Ringen, bis es endlich den Neuangekommenen englischen Truppen gelang, den Aufstand niederzuwerfen. Durchaus treu auch war die Haltung der zuletzt unter¬ worfenen Sikhs geblieben. Mit dem Aufstande war auch die souveräne Macht der ostindischen Com¬ pagnie zu Grabe gegangen. Zufolge der „Akte für eine bessere Regierung Indiens"*) vom2. August 1858 gingen alle Rechte und Befugnisse ') ««n !we l'all- du« de>leur Kovki'unent n5 Imaum"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/215
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/215>, abgerufen am 23.07.2024.