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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Apostel, die nationale Partei nicht einen Vertreter. Noch rühmlicher wird aber
dieser Erfolg, wenn man sich die Wahlkreise ansieht, in denen die nationale
Partei nach der jüngsten Wahlschlacht gesiegt hat oder zur Stichwahl gelangt.
Einen der festgewonnenen Wahlkreise (den fünfzehnten) hat sie, wie bereits er¬
wähnt, der Socialdemokratie abgenommen. Und zur Stichwahl gelangt sie in
Kreisen, welche bisher zur unbestrittenen Domäne der Socialdemokratie und des
Fortschrittes, d. h. des radicalen Particularismus, gehörten. Die Hochburg
der sächsischen Hofdemokratie, Dresden, ist dem Fortschritt verloren; das Pa¬
radigma dieser unregelmäßigen Politiker, Dr. Minckwitz, ist beseitigt; der natio¬
nale Candidat Professor Dr. Mayhosf tritt in Dresden mit -- Bebel in die Stich¬
wahl ein. Fast dasselbe Schauspiel bietet der seit 1867 stets durch den particula-
ristischen Fortschrittsmann Oehmichen vertretene Wahlkreis. Herr Bebel und
Herr Liebknecht mußten sich in ihren eigenen angestammten Wahlkreisen beinahe
zur Stichwahl mit einem Nationalliberalen bequemen. Auch Freiberg, das
1868 und wieder 1873 ein Raub der Socialdemokratie wurde, kann der
nationalen Partei, die es dort zur Stichwahl brachte, gewonnen gelten.

Jeder Sieg erlangt seinen wahren Werth aber erst durch die Macht und Wider¬
standskraft der überwundenen Gegner. Und darum hauptsächlich darf die nationale
Partei zufrieden sein mit ihren Wahlresultaten in Sachsen. Denn leicht ist ihr
der Kampf und Sieg nirgends gemacht worden. Ein bekannter preußischer
Reichstagsabgeordneter, der am Wahltag Leipzig passirte, sagte mir mit Recht,
nachdem er von unserer Wahlliteratur in Placaten und Presse Kenntniß ge¬
nommen: "Wie leidenschaftlich ist bei Ihnen der Wahlkampf! Wo der nationale
Mann nur hintritt, ist ihm Gift gelegt." Die nationale Partei hat in allen
Wahlkreisen*) mit dreifachen Gegnern sich zu schlagen gehabt: mit Socialisten,
mit Conservativen und fortschrittlichen Particularisten. Wo eine dieser Gegen¬
parteien zu schwach war, hat sie sich redlich mit ihrem Extrem verbündet, nur
um den nationalen Candidaten zu Fall zu bringen. Im ersten Wahlkreis
der Lausitz haben die Ultramontanen freudig mit für den angeblich fortschritt¬
lichen Schutzzöllner Fränkel gegen den nationalen Pfeiffer gestimmt. In
Leipzig warfen Conservative und Fortschrittler ihre Stimmen für Hänel in
die Urne und brachten es ans 1757. Und trotz dieser dreifachen Gegner diese
Wahlresultate für die Nationalliberalen!

Ueberreich verdiente Niederlagen hat die Sächsische Fortschrittspartei in
dieser Wahlschlacht geerntet. Von den vier Reichstagssitzen, die sie bisher inne
hatte, sind ihr zwei vollständig verloren: Dresden und der Leipziger
Landkreis. In zwei andern tritt sie mit geringen Chancen in die Stichwahl.



") Mit Ausnahme des Is. 16. und 19., wo die liberalen Parteien gegen den Social¬
demokraten zusammenwirkten.

Apostel, die nationale Partei nicht einen Vertreter. Noch rühmlicher wird aber
dieser Erfolg, wenn man sich die Wahlkreise ansieht, in denen die nationale
Partei nach der jüngsten Wahlschlacht gesiegt hat oder zur Stichwahl gelangt.
Einen der festgewonnenen Wahlkreise (den fünfzehnten) hat sie, wie bereits er¬
wähnt, der Socialdemokratie abgenommen. Und zur Stichwahl gelangt sie in
Kreisen, welche bisher zur unbestrittenen Domäne der Socialdemokratie und des
Fortschrittes, d. h. des radicalen Particularismus, gehörten. Die Hochburg
der sächsischen Hofdemokratie, Dresden, ist dem Fortschritt verloren; das Pa¬
radigma dieser unregelmäßigen Politiker, Dr. Minckwitz, ist beseitigt; der natio¬
nale Candidat Professor Dr. Mayhosf tritt in Dresden mit — Bebel in die Stich¬
wahl ein. Fast dasselbe Schauspiel bietet der seit 1867 stets durch den particula-
ristischen Fortschrittsmann Oehmichen vertretene Wahlkreis. Herr Bebel und
Herr Liebknecht mußten sich in ihren eigenen angestammten Wahlkreisen beinahe
zur Stichwahl mit einem Nationalliberalen bequemen. Auch Freiberg, das
1868 und wieder 1873 ein Raub der Socialdemokratie wurde, kann der
nationalen Partei, die es dort zur Stichwahl brachte, gewonnen gelten.

Jeder Sieg erlangt seinen wahren Werth aber erst durch die Macht und Wider¬
standskraft der überwundenen Gegner. Und darum hauptsächlich darf die nationale
Partei zufrieden sein mit ihren Wahlresultaten in Sachsen. Denn leicht ist ihr
der Kampf und Sieg nirgends gemacht worden. Ein bekannter preußischer
Reichstagsabgeordneter, der am Wahltag Leipzig passirte, sagte mir mit Recht,
nachdem er von unserer Wahlliteratur in Placaten und Presse Kenntniß ge¬
nommen: „Wie leidenschaftlich ist bei Ihnen der Wahlkampf! Wo der nationale
Mann nur hintritt, ist ihm Gift gelegt." Die nationale Partei hat in allen
Wahlkreisen*) mit dreifachen Gegnern sich zu schlagen gehabt: mit Socialisten,
mit Conservativen und fortschrittlichen Particularisten. Wo eine dieser Gegen¬
parteien zu schwach war, hat sie sich redlich mit ihrem Extrem verbündet, nur
um den nationalen Candidaten zu Fall zu bringen. Im ersten Wahlkreis
der Lausitz haben die Ultramontanen freudig mit für den angeblich fortschritt¬
lichen Schutzzöllner Fränkel gegen den nationalen Pfeiffer gestimmt. In
Leipzig warfen Conservative und Fortschrittler ihre Stimmen für Hänel in
die Urne und brachten es ans 1757. Und trotz dieser dreifachen Gegner diese
Wahlresultate für die Nationalliberalen!

Ueberreich verdiente Niederlagen hat die Sächsische Fortschrittspartei in
dieser Wahlschlacht geerntet. Von den vier Reichstagssitzen, die sie bisher inne
hatte, sind ihr zwei vollständig verloren: Dresden und der Leipziger
Landkreis. In zwei andern tritt sie mit geringen Chancen in die Stichwahl.



") Mit Ausnahme des Is. 16. und 19., wo die liberalen Parteien gegen den Social¬
demokraten zusammenwirkten.
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[0165] Apostel, die nationale Partei nicht einen Vertreter. Noch rühmlicher wird aber dieser Erfolg, wenn man sich die Wahlkreise ansieht, in denen die nationale Partei nach der jüngsten Wahlschlacht gesiegt hat oder zur Stichwahl gelangt. Einen der festgewonnenen Wahlkreise (den fünfzehnten) hat sie, wie bereits er¬ wähnt, der Socialdemokratie abgenommen. Und zur Stichwahl gelangt sie in Kreisen, welche bisher zur unbestrittenen Domäne der Socialdemokratie und des Fortschrittes, d. h. des radicalen Particularismus, gehörten. Die Hochburg der sächsischen Hofdemokratie, Dresden, ist dem Fortschritt verloren; das Pa¬ radigma dieser unregelmäßigen Politiker, Dr. Minckwitz, ist beseitigt; der natio¬ nale Candidat Professor Dr. Mayhosf tritt in Dresden mit — Bebel in die Stich¬ wahl ein. Fast dasselbe Schauspiel bietet der seit 1867 stets durch den particula- ristischen Fortschrittsmann Oehmichen vertretene Wahlkreis. Herr Bebel und Herr Liebknecht mußten sich in ihren eigenen angestammten Wahlkreisen beinahe zur Stichwahl mit einem Nationalliberalen bequemen. Auch Freiberg, das 1868 und wieder 1873 ein Raub der Socialdemokratie wurde, kann der nationalen Partei, die es dort zur Stichwahl brachte, gewonnen gelten. Jeder Sieg erlangt seinen wahren Werth aber erst durch die Macht und Wider¬ standskraft der überwundenen Gegner. Und darum hauptsächlich darf die nationale Partei zufrieden sein mit ihren Wahlresultaten in Sachsen. Denn leicht ist ihr der Kampf und Sieg nirgends gemacht worden. Ein bekannter preußischer Reichstagsabgeordneter, der am Wahltag Leipzig passirte, sagte mir mit Recht, nachdem er von unserer Wahlliteratur in Placaten und Presse Kenntniß ge¬ nommen: „Wie leidenschaftlich ist bei Ihnen der Wahlkampf! Wo der nationale Mann nur hintritt, ist ihm Gift gelegt." Die nationale Partei hat in allen Wahlkreisen*) mit dreifachen Gegnern sich zu schlagen gehabt: mit Socialisten, mit Conservativen und fortschrittlichen Particularisten. Wo eine dieser Gegen¬ parteien zu schwach war, hat sie sich redlich mit ihrem Extrem verbündet, nur um den nationalen Candidaten zu Fall zu bringen. Im ersten Wahlkreis der Lausitz haben die Ultramontanen freudig mit für den angeblich fortschritt¬ lichen Schutzzöllner Fränkel gegen den nationalen Pfeiffer gestimmt. In Leipzig warfen Conservative und Fortschrittler ihre Stimmen für Hänel in die Urne und brachten es ans 1757. Und trotz dieser dreifachen Gegner diese Wahlresultate für die Nationalliberalen! Ueberreich verdiente Niederlagen hat die Sächsische Fortschrittspartei in dieser Wahlschlacht geerntet. Von den vier Reichstagssitzen, die sie bisher inne hatte, sind ihr zwei vollständig verloren: Dresden und der Leipziger Landkreis. In zwei andern tritt sie mit geringen Chancen in die Stichwahl. ") Mit Ausnahme des Is. 16. und 19., wo die liberalen Parteien gegen den Social¬ demokraten zusammenwirkten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/165>, abgerufen am 23.07.2024.