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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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die Polyphonie ein. Hier haben wir zunächst die der syllabarischen Zeichen,
d. h. die Eigenschaft, kraft deren ein und dasselbe Zeichen verschiedene Laut¬
werthe haben kann. "Principiell", sagt Schrader, "kann jedes fyllabarische
Zeichen an sich zur Bezeichnung noch weiterer Sylbenwerthe, sei es einfacher,
sei es zusammengesetzter, dienen." Ein und dasselbe Zeichen kann u. A. dich,
um, vus und lip, ein anderes kann zugleich dan, tat, lap und rip, ein drittes
dur, hun, ku und luß bedeuten, und eines hat außer ka noch fünf andere
Werthe. Derselben Polyphonie unterliegen die ideographischen Zeichen der
Keilschrift: ein einziges Ideogramm kann "Sohn", "Assur" (der Gott), "Assur"
(das Land) und "in", ein zweites "Berg", "Land", "Beute" und "nehmen",
ein drittel "Sonne", "Tag", "Licht" und "Meer", ein viertes endlich "nehmen",
"anfüllen", "ausgießen" und "wägen" heißen. Nicht genug der Schwierigkeiten:
dieselben Zeichen, die phonetisch find, sind meist auch ideographisch; "massen-
weise bestimmen die Syllabare Zeichen nach ihrem Lautwerthe und nach ihrem
Sinnwerthe", und "es trifft sich nicht selten, daß einem Zeichen, welches schon
ein- oder mehrfach polyphon ist, auch noch ideographische und dazu sehr oft
mehrfache derartige Werthe eignen." Beispielsweise bedeutet ein Zeichen Pho¬
netisch gar, sa und ideographisch "nehmen" oder "gewähren", ein zweites pho¬
netisch duk, ka und ideograpisch "Mund" oder "wünschen", ein drittes phonetisch
kak und ideographisch "Baum", "machen" oder "Ganzheit", ein viertes pho¬
netisch man, mis und ideographisch "König" oder "Zwanzig", ein fünftes pho- ^
netisch tur, lat, mat, nat, sat und ideographisch "Berg", "Lad", "Leute",
"nehmen" u. s. f. Die Schwierigkeit wächst durch die Alloph ville, die darin
besteht, daß ein Begriff nicht blos durch ein einfaches Ideogramm, sondern
auch durch ein zusammengesetztes, eine Gruppe von Zeichen ausgedrückt werden
kann. So werden Diglat, Babilu und Nabukndurriu^ur mit Zeichen ge¬
schrieben, die phonetisch Bar-til-gar, Din-dir-ki und An-pa-sa-dn-sis lauten
würden. Endlich dienen bisweilen dieselben Zeichen, die bereits einen polyphonen
Charakter und daneben ideographische Werthe haben, lediglich dazu, als deter¬
minative Ideogramme auf ein ihnen folgendes Wort hinzuweisen.

Fragen wir nach - den Hülfsmitteln, die dem Entzifferer zu Gebote stehen,
wenn er wissen will, ob ein Zeichen phonetischen oder ideographischen Werth
hat, so nennt uns Schrader: Verstöße gegen den Charakter der assyrischen
Sylbenschrift, die eintreten würden, wenn ein bestimmtes Zeichen phonetisch
genommen würde, ferner sprachliche Erwägungen, endlich Berücksichtigung des
Sinnes und Zusammenhanges der ganzen Stelle. Aber zu dem ersten Punkte
muß Schrader selbst Ausnahmen zugeben, und für das Eintreten der beiden
andern Fälle ist nothwendige Voraussetzung, daß das richtige Verständniß bereis
in der Hauptsache gesichert ist.


die Polyphonie ein. Hier haben wir zunächst die der syllabarischen Zeichen,
d. h. die Eigenschaft, kraft deren ein und dasselbe Zeichen verschiedene Laut¬
werthe haben kann. „Principiell", sagt Schrader, „kann jedes fyllabarische
Zeichen an sich zur Bezeichnung noch weiterer Sylbenwerthe, sei es einfacher,
sei es zusammengesetzter, dienen." Ein und dasselbe Zeichen kann u. A. dich,
um, vus und lip, ein anderes kann zugleich dan, tat, lap und rip, ein drittes
dur, hun, ku und luß bedeuten, und eines hat außer ka noch fünf andere
Werthe. Derselben Polyphonie unterliegen die ideographischen Zeichen der
Keilschrift: ein einziges Ideogramm kann „Sohn", „Assur" (der Gott), „Assur"
(das Land) und „in", ein zweites „Berg", „Land", „Beute" und „nehmen",
ein drittel „Sonne", „Tag", „Licht" und „Meer", ein viertes endlich „nehmen",
„anfüllen", „ausgießen" und „wägen" heißen. Nicht genug der Schwierigkeiten:
dieselben Zeichen, die phonetisch find, sind meist auch ideographisch; „massen-
weise bestimmen die Syllabare Zeichen nach ihrem Lautwerthe und nach ihrem
Sinnwerthe", und „es trifft sich nicht selten, daß einem Zeichen, welches schon
ein- oder mehrfach polyphon ist, auch noch ideographische und dazu sehr oft
mehrfache derartige Werthe eignen." Beispielsweise bedeutet ein Zeichen Pho¬
netisch gar, sa und ideographisch „nehmen" oder „gewähren", ein zweites pho¬
netisch duk, ka und ideograpisch „Mund" oder „wünschen", ein drittes phonetisch
kak und ideographisch „Baum", „machen" oder „Ganzheit", ein viertes pho¬
netisch man, mis und ideographisch „König" oder „Zwanzig", ein fünftes pho- ^
netisch tur, lat, mat, nat, sat und ideographisch „Berg", „Lad", „Leute",
„nehmen" u. s. f. Die Schwierigkeit wächst durch die Alloph ville, die darin
besteht, daß ein Begriff nicht blos durch ein einfaches Ideogramm, sondern
auch durch ein zusammengesetztes, eine Gruppe von Zeichen ausgedrückt werden
kann. So werden Diglat, Babilu und Nabukndurriu^ur mit Zeichen ge¬
schrieben, die phonetisch Bar-til-gar, Din-dir-ki und An-pa-sa-dn-sis lauten
würden. Endlich dienen bisweilen dieselben Zeichen, die bereits einen polyphonen
Charakter und daneben ideographische Werthe haben, lediglich dazu, als deter¬
minative Ideogramme auf ein ihnen folgendes Wort hinzuweisen.

Fragen wir nach - den Hülfsmitteln, die dem Entzifferer zu Gebote stehen,
wenn er wissen will, ob ein Zeichen phonetischen oder ideographischen Werth
hat, so nennt uns Schrader: Verstöße gegen den Charakter der assyrischen
Sylbenschrift, die eintreten würden, wenn ein bestimmtes Zeichen phonetisch
genommen würde, ferner sprachliche Erwägungen, endlich Berücksichtigung des
Sinnes und Zusammenhanges der ganzen Stelle. Aber zu dem ersten Punkte
muß Schrader selbst Ausnahmen zugeben, und für das Eintreten der beiden
andern Fälle ist nothwendige Voraussetzung, daß das richtige Verständniß bereis
in der Hauptsache gesichert ist.


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[0132] die Polyphonie ein. Hier haben wir zunächst die der syllabarischen Zeichen, d. h. die Eigenschaft, kraft deren ein und dasselbe Zeichen verschiedene Laut¬ werthe haben kann. „Principiell", sagt Schrader, „kann jedes fyllabarische Zeichen an sich zur Bezeichnung noch weiterer Sylbenwerthe, sei es einfacher, sei es zusammengesetzter, dienen." Ein und dasselbe Zeichen kann u. A. dich, um, vus und lip, ein anderes kann zugleich dan, tat, lap und rip, ein drittes dur, hun, ku und luß bedeuten, und eines hat außer ka noch fünf andere Werthe. Derselben Polyphonie unterliegen die ideographischen Zeichen der Keilschrift: ein einziges Ideogramm kann „Sohn", „Assur" (der Gott), „Assur" (das Land) und „in", ein zweites „Berg", „Land", „Beute" und „nehmen", ein drittel „Sonne", „Tag", „Licht" und „Meer", ein viertes endlich „nehmen", „anfüllen", „ausgießen" und „wägen" heißen. Nicht genug der Schwierigkeiten: dieselben Zeichen, die phonetisch find, sind meist auch ideographisch; „massen- weise bestimmen die Syllabare Zeichen nach ihrem Lautwerthe und nach ihrem Sinnwerthe", und „es trifft sich nicht selten, daß einem Zeichen, welches schon ein- oder mehrfach polyphon ist, auch noch ideographische und dazu sehr oft mehrfache derartige Werthe eignen." Beispielsweise bedeutet ein Zeichen Pho¬ netisch gar, sa und ideographisch „nehmen" oder „gewähren", ein zweites pho¬ netisch duk, ka und ideograpisch „Mund" oder „wünschen", ein drittes phonetisch kak und ideographisch „Baum", „machen" oder „Ganzheit", ein viertes pho¬ netisch man, mis und ideographisch „König" oder „Zwanzig", ein fünftes pho- ^ netisch tur, lat, mat, nat, sat und ideographisch „Berg", „Lad", „Leute", „nehmen" u. s. f. Die Schwierigkeit wächst durch die Alloph ville, die darin besteht, daß ein Begriff nicht blos durch ein einfaches Ideogramm, sondern auch durch ein zusammengesetztes, eine Gruppe von Zeichen ausgedrückt werden kann. So werden Diglat, Babilu und Nabukndurriu^ur mit Zeichen ge¬ schrieben, die phonetisch Bar-til-gar, Din-dir-ki und An-pa-sa-dn-sis lauten würden. Endlich dienen bisweilen dieselben Zeichen, die bereits einen polyphonen Charakter und daneben ideographische Werthe haben, lediglich dazu, als deter¬ minative Ideogramme auf ein ihnen folgendes Wort hinzuweisen. Fragen wir nach - den Hülfsmitteln, die dem Entzifferer zu Gebote stehen, wenn er wissen will, ob ein Zeichen phonetischen oder ideographischen Werth hat, so nennt uns Schrader: Verstöße gegen den Charakter der assyrischen Sylbenschrift, die eintreten würden, wenn ein bestimmtes Zeichen phonetisch genommen würde, ferner sprachliche Erwägungen, endlich Berücksichtigung des Sinnes und Zusammenhanges der ganzen Stelle. Aber zu dem ersten Punkte muß Schrader selbst Ausnahmen zugeben, und für das Eintreten der beiden andern Fälle ist nothwendige Voraussetzung, daß das richtige Verständniß bereis in der Hauptsache gesichert ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/132>, abgerufen am 23.07.2024.