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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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"Es flog eine weiße Taube
Wohl aus dem Lindenbaum,
Sie flog wohl über Grünhaide
Vor Edelkönigs Haus.
Was trug die weiße Taube?
Ein blau, blau Blümelein.
Die jüngste Königstochter
Soll spinnen ein Fädchen fein."

U. s. w.

Nach diesem Liede, welches meist in die ersten Stunden des Nachmit"
tags fällt, verläßt die Gesellschaft plötzlich ihre Schwingstöcke und eilt hinaus
vor das Gehöft auf einen Erdhügel oder eine künstliche Erhöhung über dem
Boden, wo dann Alle, gegen Morgen gewendet, mit erhobenen Händen drei¬
mal aus voller Brust aufjauchzen. Was das zu bedeuten hat, weiß Niemand
zu sagen. "Es ist von Alters her so gebräuchlich" erhält der danach Fra¬
gende zur Antwort. Vielleicht rief man in der Urzeit den Namen der Erd¬
mutter aus, die dem Bau und der Verarbeitung des Flachses vorstand; denn
möglicherweise ist hiermit in Verbindung zu bringen, daß ehedem am Nie-
derrhein auch in der Walpurgisnacht jenes dreimalige Aufjauchzen nach Osten
hin Sitte war, daß man in Westphalen bei den ländlichen Festlichkeiten, mit
denen der Frühling begrüßt wurde, dreimal den Namen Herke zu rufen
pflegte, und daß die Schwingfeste früher nur am Freitage abgehalten wur¬
den, welcher jener Göttin des saatengebährenden Erdenschooßes, des Flachs-
segens und der Spinnkunst geweiht war.

Wieder in das Gehöft zurückgekehrt, beginnen die Frauen und Mädchen
ihr Schwingen und Singen von Neuem, und das geht so lange fort, bis sich
am Abend die jungen Männer des Ortes und der Nachbarschaft einfinden,
um an dem nun folgenden Tanze theilzunehmen und zuletzt ihr Schätzchen
nach Hause zu geleiten. Noch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr¬
hunderts geschah es dabei, nach dem Zeugniß eines alten Predigtbuches, daß
"die Dorfburschen einen Pferdeschädel mit Katzendärmen überspannten
und neben dem Hackebret darauf schnurrten zu teuflischem Hallo und
Hopsa."

Bei der Arbeit der Schwingtage sowie später beim Tanze wird ein nur
bei dieser Gelegenheit übliches Getränk, ein Gemisch aus Wein oder Honig¬
wasser mit Anisbranntwein, worin Pfefferkuchen zerweicht ist, herumgereicht.
Die herkömmlichen Gerichte dazu sind Mehlkuchen und Hirsebrei. Jenes
Getränk, "Kümpchen" genannt, wird, da es breiartig dick ist, mit Löffeln ge¬
nossen, und zwar will das Herkommen, daß die Mädchen ihre Burschen damit
füttern. Sie halten dabei jede ihr Schüsselchen auf dem Schooße, ihr Schatz


„Es flog eine weiße Taube
Wohl aus dem Lindenbaum,
Sie flog wohl über Grünhaide
Vor Edelkönigs Haus.
Was trug die weiße Taube?
Ein blau, blau Blümelein.
Die jüngste Königstochter
Soll spinnen ein Fädchen fein."

U. s. w.

Nach diesem Liede, welches meist in die ersten Stunden des Nachmit«
tags fällt, verläßt die Gesellschaft plötzlich ihre Schwingstöcke und eilt hinaus
vor das Gehöft auf einen Erdhügel oder eine künstliche Erhöhung über dem
Boden, wo dann Alle, gegen Morgen gewendet, mit erhobenen Händen drei¬
mal aus voller Brust aufjauchzen. Was das zu bedeuten hat, weiß Niemand
zu sagen. „Es ist von Alters her so gebräuchlich" erhält der danach Fra¬
gende zur Antwort. Vielleicht rief man in der Urzeit den Namen der Erd¬
mutter aus, die dem Bau und der Verarbeitung des Flachses vorstand; denn
möglicherweise ist hiermit in Verbindung zu bringen, daß ehedem am Nie-
derrhein auch in der Walpurgisnacht jenes dreimalige Aufjauchzen nach Osten
hin Sitte war, daß man in Westphalen bei den ländlichen Festlichkeiten, mit
denen der Frühling begrüßt wurde, dreimal den Namen Herke zu rufen
pflegte, und daß die Schwingfeste früher nur am Freitage abgehalten wur¬
den, welcher jener Göttin des saatengebährenden Erdenschooßes, des Flachs-
segens und der Spinnkunst geweiht war.

Wieder in das Gehöft zurückgekehrt, beginnen die Frauen und Mädchen
ihr Schwingen und Singen von Neuem, und das geht so lange fort, bis sich
am Abend die jungen Männer des Ortes und der Nachbarschaft einfinden,
um an dem nun folgenden Tanze theilzunehmen und zuletzt ihr Schätzchen
nach Hause zu geleiten. Noch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr¬
hunderts geschah es dabei, nach dem Zeugniß eines alten Predigtbuches, daß
„die Dorfburschen einen Pferdeschädel mit Katzendärmen überspannten
und neben dem Hackebret darauf schnurrten zu teuflischem Hallo und
Hopsa."

Bei der Arbeit der Schwingtage sowie später beim Tanze wird ein nur
bei dieser Gelegenheit übliches Getränk, ein Gemisch aus Wein oder Honig¬
wasser mit Anisbranntwein, worin Pfefferkuchen zerweicht ist, herumgereicht.
Die herkömmlichen Gerichte dazu sind Mehlkuchen und Hirsebrei. Jenes
Getränk, „Kümpchen" genannt, wird, da es breiartig dick ist, mit Löffeln ge¬
nossen, und zwar will das Herkommen, daß die Mädchen ihre Burschen damit
füttern. Sie halten dabei jede ihr Schüsselchen auf dem Schooße, ihr Schatz


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[0070] „Es flog eine weiße Taube Wohl aus dem Lindenbaum, Sie flog wohl über Grünhaide Vor Edelkönigs Haus. Was trug die weiße Taube? Ein blau, blau Blümelein. Die jüngste Königstochter Soll spinnen ein Fädchen fein." U. s. w. Nach diesem Liede, welches meist in die ersten Stunden des Nachmit« tags fällt, verläßt die Gesellschaft plötzlich ihre Schwingstöcke und eilt hinaus vor das Gehöft auf einen Erdhügel oder eine künstliche Erhöhung über dem Boden, wo dann Alle, gegen Morgen gewendet, mit erhobenen Händen drei¬ mal aus voller Brust aufjauchzen. Was das zu bedeuten hat, weiß Niemand zu sagen. „Es ist von Alters her so gebräuchlich" erhält der danach Fra¬ gende zur Antwort. Vielleicht rief man in der Urzeit den Namen der Erd¬ mutter aus, die dem Bau und der Verarbeitung des Flachses vorstand; denn möglicherweise ist hiermit in Verbindung zu bringen, daß ehedem am Nie- derrhein auch in der Walpurgisnacht jenes dreimalige Aufjauchzen nach Osten hin Sitte war, daß man in Westphalen bei den ländlichen Festlichkeiten, mit denen der Frühling begrüßt wurde, dreimal den Namen Herke zu rufen pflegte, und daß die Schwingfeste früher nur am Freitage abgehalten wur¬ den, welcher jener Göttin des saatengebährenden Erdenschooßes, des Flachs- segens und der Spinnkunst geweiht war. Wieder in das Gehöft zurückgekehrt, beginnen die Frauen und Mädchen ihr Schwingen und Singen von Neuem, und das geht so lange fort, bis sich am Abend die jungen Männer des Ortes und der Nachbarschaft einfinden, um an dem nun folgenden Tanze theilzunehmen und zuletzt ihr Schätzchen nach Hause zu geleiten. Noch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr¬ hunderts geschah es dabei, nach dem Zeugniß eines alten Predigtbuches, daß „die Dorfburschen einen Pferdeschädel mit Katzendärmen überspannten und neben dem Hackebret darauf schnurrten zu teuflischem Hallo und Hopsa." Bei der Arbeit der Schwingtage sowie später beim Tanze wird ein nur bei dieser Gelegenheit übliches Getränk, ein Gemisch aus Wein oder Honig¬ wasser mit Anisbranntwein, worin Pfefferkuchen zerweicht ist, herumgereicht. Die herkömmlichen Gerichte dazu sind Mehlkuchen und Hirsebrei. Jenes Getränk, „Kümpchen" genannt, wird, da es breiartig dick ist, mit Löffeln ge¬ nossen, und zwar will das Herkommen, daß die Mädchen ihre Burschen damit füttern. Sie halten dabei jede ihr Schüsselchen auf dem Schooße, ihr Schatz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/70>, abgerufen am 20.10.2024.