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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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stand ist so arg, daß man sich lediglich darüber wundern kann, nicht alle
paar Tage von einem größeren Unfall zu hören. Dazu noch fehlen in den
Barrieren zur Seite der Straße die Stangen entweder ganz oder sie sind
zum größten Theil von so erbärmlicher Beschaffenheit, daß jeder stärkere
Druck sie sofort zerbrechen müßte. Ich bin allezeit ein Lobredner der schweize¬
rischen Verkehrsanstalten gewesen; um so weniger habe ich Grund, über die
schreiende Mangelhaftigkeit der Landstraße des Prättigaus zu schweigen. Eine
Verbreiterung derselben würde allerdings erhebliche Kosten verursachen, aber
anderwärts hat man die Sicherheit des reisenden Publikums mit noch weit
größeren Opfern erkaufen müssen. Man vergleiche nur die Chausseen bei
Graubündtens nächstem Nachbar, Tirol. Die Straße, welche vom Unter-
engadin nach Nauders hinüberführt, läßt ihre Graubündtner Schwestern weit
hinter sich zurück.

Dies ist übrigens auch der einzige erfreuliche Unterschied, den man nach
dem Ueberschreiten der Tiroler Grenze zu beobachten Gelegenheit hat. Was
einem sonst zunächst in's Auge fällt, sind die zahllosen Heiligenbilder. Am
unangenehmsten aber empfindet man die Inferiorität der Gasthofseinrichtungen.
Ich habe einen großen Respect vor den "guten Alten"; auch das Prädicat
"deutsch-bürgerlich" hat für mich einen wohlthuenden Klang. Aber wenn
man sich unter dieser Firma rostige Gabeln, unsaubere Servietten, Blümchen¬
kaffee, zähen Hammelbraten oder gar Forellen mit Knoblauch gekocht (!) ge¬
fallen lassen muß, dann fühle ich mich doch wohler in den Schweizer Hotels,
die, man mag über ihren oft sinnlosen Luxus und über die Unausstehlichkeit
der unvermeidlichen "Engländer" sagen, was man will, doch, was die Zweck¬
mäßigkeit der Einrichtung und die Beschaffenheit der Speisen anlangt, die
besten Gasthöfe der Welt bleiben. Meine Charakteristik bezieht sich selbst¬
verständlich nicht auf die Hotels in den größeren Städten Tirols. Für die
kleineren Orte aber trifft sie fast durchweg zu.

Die einzige Schwierigkeit, die das herbstliche Reisen mit sich bringt, ist
die Aufgabe, an solchen Orten die langen Abende zuzubringen. Wir befinden
uns z. B. in einem bedeutenden Marktflecken. Es ist Sonnabend; eben ist
das Dunkel hereingebrochen, und die Menschen schicken sich an, von der Arbeit
des Werktags auszuruhen. Wir treten in den ersten Gasthof, einen alterthüm¬
lichen Bau mit vorspringenden Erkern, Wände und Thüren mit allerlei Wappen¬
thieren und Madonnen bemalt. Man weist uns in das "Extrazimmer."
Drüben, in der "gewöhnlichen" Stube, lärmt eine Schaar betrunkener Sol¬
daten, die der Besatzung einer benachbarten kleinen Beste angehören; hier
dagegen herrscht feierliche Stille: wir sind mutterseelenallein. Eine veraltete
illustrirte Wochenschrift ist die einzige geistige Nahrung, mit der wir versuchen
mögen, uns die Zeit zu vertreiben. Schlag 7 Uhr stellt sich der erste ein-


stand ist so arg, daß man sich lediglich darüber wundern kann, nicht alle
paar Tage von einem größeren Unfall zu hören. Dazu noch fehlen in den
Barrieren zur Seite der Straße die Stangen entweder ganz oder sie sind
zum größten Theil von so erbärmlicher Beschaffenheit, daß jeder stärkere
Druck sie sofort zerbrechen müßte. Ich bin allezeit ein Lobredner der schweize¬
rischen Verkehrsanstalten gewesen; um so weniger habe ich Grund, über die
schreiende Mangelhaftigkeit der Landstraße des Prättigaus zu schweigen. Eine
Verbreiterung derselben würde allerdings erhebliche Kosten verursachen, aber
anderwärts hat man die Sicherheit des reisenden Publikums mit noch weit
größeren Opfern erkaufen müssen. Man vergleiche nur die Chausseen bei
Graubündtens nächstem Nachbar, Tirol. Die Straße, welche vom Unter-
engadin nach Nauders hinüberführt, läßt ihre Graubündtner Schwestern weit
hinter sich zurück.

Dies ist übrigens auch der einzige erfreuliche Unterschied, den man nach
dem Ueberschreiten der Tiroler Grenze zu beobachten Gelegenheit hat. Was
einem sonst zunächst in's Auge fällt, sind die zahllosen Heiligenbilder. Am
unangenehmsten aber empfindet man die Inferiorität der Gasthofseinrichtungen.
Ich habe einen großen Respect vor den „guten Alten"; auch das Prädicat
„deutsch-bürgerlich" hat für mich einen wohlthuenden Klang. Aber wenn
man sich unter dieser Firma rostige Gabeln, unsaubere Servietten, Blümchen¬
kaffee, zähen Hammelbraten oder gar Forellen mit Knoblauch gekocht (!) ge¬
fallen lassen muß, dann fühle ich mich doch wohler in den Schweizer Hotels,
die, man mag über ihren oft sinnlosen Luxus und über die Unausstehlichkeit
der unvermeidlichen „Engländer" sagen, was man will, doch, was die Zweck¬
mäßigkeit der Einrichtung und die Beschaffenheit der Speisen anlangt, die
besten Gasthöfe der Welt bleiben. Meine Charakteristik bezieht sich selbst¬
verständlich nicht auf die Hotels in den größeren Städten Tirols. Für die
kleineren Orte aber trifft sie fast durchweg zu.

Die einzige Schwierigkeit, die das herbstliche Reisen mit sich bringt, ist
die Aufgabe, an solchen Orten die langen Abende zuzubringen. Wir befinden
uns z. B. in einem bedeutenden Marktflecken. Es ist Sonnabend; eben ist
das Dunkel hereingebrochen, und die Menschen schicken sich an, von der Arbeit
des Werktags auszuruhen. Wir treten in den ersten Gasthof, einen alterthüm¬
lichen Bau mit vorspringenden Erkern, Wände und Thüren mit allerlei Wappen¬
thieren und Madonnen bemalt. Man weist uns in das „Extrazimmer."
Drüben, in der „gewöhnlichen" Stube, lärmt eine Schaar betrunkener Sol¬
daten, die der Besatzung einer benachbarten kleinen Beste angehören; hier
dagegen herrscht feierliche Stille: wir sind mutterseelenallein. Eine veraltete
illustrirte Wochenschrift ist die einzige geistige Nahrung, mit der wir versuchen
mögen, uns die Zeit zu vertreiben. Schlag 7 Uhr stellt sich der erste ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/402>, abgerufen am 19.10.2024.