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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Frau von Schüngel. Ein Bauer hatte in der Vorgeschichte einen Schimmel
vor dem Leichenwagen erblickt, und man spannte deshalb absichtlich ein
anderes Pferd vor, aber dieses wurde wild und zerriß das Geschirr, so daß
man sich gezwungen fand, einen Schimmel zu holen, um die Leiche zur Ruhe
zu bringen.

Das zweite Gesicht ist in Westphalen gewöhnlich angeboren und gilt als
eine Art Krankheit. Am meisten sind ihm die ausgesetzt, welche in der
Matthiasnacht geboren sind; denn die "müssen mit den Hollen fahren", sie
können an den Wänden emporsteigen und mit geschlossenen Augen auf den
höchsten Zinnen hinschreiten, und sie haben in gewissen Nächten auf dem
Kirchhofe die Geister zu tragen. Dafür wissen sie aber auch immer voraus,
wer im Dorfe stirbt. Sodann setzt man ein Kind, wenn man zwischen
seiner Geburt und seiner Taufe zwei Freitage vergehen läßt, der Gefahr aus,
daß es später "schichtert" -- ein Ausdruck, der eigentlich nur gewandt, flink,
klug (englisch Mkt?) sein und erst in zweiter Linie Geister sehen heißt.

Man kann sich das zweite Gesicht aber auch verschaffen oder zuziehen;
denn wer einem Menschen oder einem Hunde, der "schichtert", über die linke
Schulter blickt, der nimmt Dasselbe wahr, was jener vor sich bemerkt, und
behält diese unheimliche Gabe bis an seinen Tod, wenn sie ihm nicht jemand
abnimmt. In Schmallenberg ist, wie man Kühn erzählte, einmal ein Mädchen
gewesen, die hat es jede Nacht um zwölf Uhr aus dem Bette und an's Fenster
getrieben, wo sie den Geistern auf dem Kirchhofe zusehen mußte. Als sie das
einmal ihren Nachbarn klagte, war einer darunter, der ihr's nicht glauben wollte.
Da hat sie ihn eingeladen, doch in der nächsten Nacht bei ihr zu wachen, und
als sie nun wirklich Punkt Zwölfe an's Fenster ging, trat er hinter sie und
sah über ihre linke Schulter auf den Kirchhof hinaus. Von Stund an war
das Mädchen die Sache los, und der ungläubige Nachbar mußte jetzt statt ihrer
allnächtlich den Geisterspuk mit ansehen, bis ihm endlich jemand riech, sich
dabei von einem Hunde über die linke Schulter blicken zu lassen. Das hat
^ gethan, und von jetzt an hat er wieder schlafen können. Im Hildes-
heim'schen. wo das zweite Gesicht "Vorgelate" heißt, geschieht dasselbe, wenn
Man dem Schauenden über die rechte Schulter steht. In Schwaben tritt man
SU demselben Zwecke irgend jemandem auf den rechten Fuß und sieht ihm
über die linke Schulter, man kann sich ihm aber auch auf den linken Fuß
stellen und ihm über die rechte Schulter blicken; denn "es ist einerlei, wenn
°s nur kreuzweise geschieht."

Auf der Lüneburger Haide giebt es ebenfalls Vorgeschichtenseher, die
Sterbefälle voraus wissen. Der Todescandidat erscheint ihnen in ein Leichen-
tuch gehüllt, und je höher ihm dieses von den Füßen an herausgeht, desto
^er kommt der Tod zu ihm.


Frau von Schüngel. Ein Bauer hatte in der Vorgeschichte einen Schimmel
vor dem Leichenwagen erblickt, und man spannte deshalb absichtlich ein
anderes Pferd vor, aber dieses wurde wild und zerriß das Geschirr, so daß
man sich gezwungen fand, einen Schimmel zu holen, um die Leiche zur Ruhe
zu bringen.

Das zweite Gesicht ist in Westphalen gewöhnlich angeboren und gilt als
eine Art Krankheit. Am meisten sind ihm die ausgesetzt, welche in der
Matthiasnacht geboren sind; denn die „müssen mit den Hollen fahren", sie
können an den Wänden emporsteigen und mit geschlossenen Augen auf den
höchsten Zinnen hinschreiten, und sie haben in gewissen Nächten auf dem
Kirchhofe die Geister zu tragen. Dafür wissen sie aber auch immer voraus,
wer im Dorfe stirbt. Sodann setzt man ein Kind, wenn man zwischen
seiner Geburt und seiner Taufe zwei Freitage vergehen läßt, der Gefahr aus,
daß es später „schichtert" — ein Ausdruck, der eigentlich nur gewandt, flink,
klug (englisch Mkt?) sein und erst in zweiter Linie Geister sehen heißt.

Man kann sich das zweite Gesicht aber auch verschaffen oder zuziehen;
denn wer einem Menschen oder einem Hunde, der „schichtert", über die linke
Schulter blickt, der nimmt Dasselbe wahr, was jener vor sich bemerkt, und
behält diese unheimliche Gabe bis an seinen Tod, wenn sie ihm nicht jemand
abnimmt. In Schmallenberg ist, wie man Kühn erzählte, einmal ein Mädchen
gewesen, die hat es jede Nacht um zwölf Uhr aus dem Bette und an's Fenster
getrieben, wo sie den Geistern auf dem Kirchhofe zusehen mußte. Als sie das
einmal ihren Nachbarn klagte, war einer darunter, der ihr's nicht glauben wollte.
Da hat sie ihn eingeladen, doch in der nächsten Nacht bei ihr zu wachen, und
als sie nun wirklich Punkt Zwölfe an's Fenster ging, trat er hinter sie und
sah über ihre linke Schulter auf den Kirchhof hinaus. Von Stund an war
das Mädchen die Sache los, und der ungläubige Nachbar mußte jetzt statt ihrer
allnächtlich den Geisterspuk mit ansehen, bis ihm endlich jemand riech, sich
dabei von einem Hunde über die linke Schulter blicken zu lassen. Das hat
^ gethan, und von jetzt an hat er wieder schlafen können. Im Hildes-
heim'schen. wo das zweite Gesicht „Vorgelate" heißt, geschieht dasselbe, wenn
Man dem Schauenden über die rechte Schulter steht. In Schwaben tritt man
SU demselben Zwecke irgend jemandem auf den rechten Fuß und sieht ihm
über die linke Schulter, man kann sich ihm aber auch auf den linken Fuß
stellen und ihm über die rechte Schulter blicken; denn „es ist einerlei, wenn
°s nur kreuzweise geschieht."

Auf der Lüneburger Haide giebt es ebenfalls Vorgeschichtenseher, die
Sterbefälle voraus wissen. Der Todescandidat erscheint ihnen in ein Leichen-
tuch gehüllt, und je höher ihm dieses von den Füßen an herausgeht, desto
^er kommt der Tod zu ihm.


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[0371] Frau von Schüngel. Ein Bauer hatte in der Vorgeschichte einen Schimmel vor dem Leichenwagen erblickt, und man spannte deshalb absichtlich ein anderes Pferd vor, aber dieses wurde wild und zerriß das Geschirr, so daß man sich gezwungen fand, einen Schimmel zu holen, um die Leiche zur Ruhe zu bringen. Das zweite Gesicht ist in Westphalen gewöhnlich angeboren und gilt als eine Art Krankheit. Am meisten sind ihm die ausgesetzt, welche in der Matthiasnacht geboren sind; denn die „müssen mit den Hollen fahren", sie können an den Wänden emporsteigen und mit geschlossenen Augen auf den höchsten Zinnen hinschreiten, und sie haben in gewissen Nächten auf dem Kirchhofe die Geister zu tragen. Dafür wissen sie aber auch immer voraus, wer im Dorfe stirbt. Sodann setzt man ein Kind, wenn man zwischen seiner Geburt und seiner Taufe zwei Freitage vergehen läßt, der Gefahr aus, daß es später „schichtert" — ein Ausdruck, der eigentlich nur gewandt, flink, klug (englisch Mkt?) sein und erst in zweiter Linie Geister sehen heißt. Man kann sich das zweite Gesicht aber auch verschaffen oder zuziehen; denn wer einem Menschen oder einem Hunde, der „schichtert", über die linke Schulter blickt, der nimmt Dasselbe wahr, was jener vor sich bemerkt, und behält diese unheimliche Gabe bis an seinen Tod, wenn sie ihm nicht jemand abnimmt. In Schmallenberg ist, wie man Kühn erzählte, einmal ein Mädchen gewesen, die hat es jede Nacht um zwölf Uhr aus dem Bette und an's Fenster getrieben, wo sie den Geistern auf dem Kirchhofe zusehen mußte. Als sie das einmal ihren Nachbarn klagte, war einer darunter, der ihr's nicht glauben wollte. Da hat sie ihn eingeladen, doch in der nächsten Nacht bei ihr zu wachen, und als sie nun wirklich Punkt Zwölfe an's Fenster ging, trat er hinter sie und sah über ihre linke Schulter auf den Kirchhof hinaus. Von Stund an war das Mädchen die Sache los, und der ungläubige Nachbar mußte jetzt statt ihrer allnächtlich den Geisterspuk mit ansehen, bis ihm endlich jemand riech, sich dabei von einem Hunde über die linke Schulter blicken zu lassen. Das hat ^ gethan, und von jetzt an hat er wieder schlafen können. Im Hildes- heim'schen. wo das zweite Gesicht „Vorgelate" heißt, geschieht dasselbe, wenn Man dem Schauenden über die rechte Schulter steht. In Schwaben tritt man SU demselben Zwecke irgend jemandem auf den rechten Fuß und sieht ihm über die linke Schulter, man kann sich ihm aber auch auf den linken Fuß stellen und ihm über die rechte Schulter blicken; denn „es ist einerlei, wenn °s nur kreuzweise geschieht." Auf der Lüneburger Haide giebt es ebenfalls Vorgeschichtenseher, die Sterbefälle voraus wissen. Der Todescandidat erscheint ihnen in ein Leichen- tuch gehüllt, und je höher ihm dieses von den Füßen an herausgeht, desto ^er kommt der Tod zu ihm.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/371>, abgerufen am 19.10.2024.