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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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muß. Hier hat man einen Punkt, der den berühmtesten Thalschluchten der
Alpenwelt nicht viel nachgiebt. --

Was Davos aber für den beobachtenden Reisenden ein ganz besonderes
Interesse verleiht, ist die dortige Gesellschaft. Die meisten anderen Kurorte
sind zugleich als Vergnügungsaufenthalt gesucht, haben daher ein stets
wechselndes Publikum, dessen verschiedene Elemente meistens nicht in nähere Be¬
rührung mit einander kommen, als bei den Bewohnern einer Großstadt der
Fall zu sein pflegt. Davos hat, außer den Wenigen, die um Anderer willen
das Opfer der Weltentsagung bringen, nur kranke Gäste. Und welche
Kranken! Mit geringen Ausnahmen sind es Solche, die vor dem furcht¬
barsten Erbfeinde der Menschheit, der Lungenschwindsucht, bei der Allerbar-
merin Natur die Hülfe suchen, welche menschliche Kunst ihnen nicht gewähren
kann. Darum ist langer Aufenthalt geboten, und so kommt es, daß Einer
den Anderen kennt und alle die gesellschaftlichen Beziehungen sich heraus¬
bilden, wie sie unter der dauernd mit einander verbundenen Bewohnerschaft
eines kleinen Gemeinwesens bestehen. Sehr irren aber würde man. wenn
man annähme, daß auf dieser Gesellschaft der bleierne Druck der Resignation
oder gar der Verzweiflung lastete. Im Gegentheil, man ist munter und
guter Dinge, singt und spielt, trinkt Bier, raucht sogar, macht fröhliche
Bergpartien, läuft Schlittschuh im Winter und scherzt beim Husten über die
Kraft der Lungen, welche einem noch geblieben -- kurz, das Ganze trägt
das Gepräge des Galgenhumors. Aber auch die Schattenseiten des gesell¬
schaftlichen Zusammenlebens fehlen nicht. Die Gemüther befinden sich
man sagt, es sei dies eine Wirkung der hohen Lage -- in einer chronischen
Ekstase, und das dient begreiflicherweise nicht gerade zur Beschwichtigung der
Leidenschaften. Die Medisance wuchert üppiger, als irgend sonst, Liebe und
Haß bewegen die Herzen stärker, als im normalen Zustande, ja es kommt
vor, daß Menschen, die sich dort droben zusammengefunden, um dem Tode
zu entrinnen, einander zum Duell herausfordern. Für den Psychologen und
den Ethiker müßte es eine anziehende Aufgabe sein, die Wirkung der hier
nur flüchtig angedeuteten Erscheinungen auf die Gestaltung des socialen
Lebens genauer zu studiren. Mir machte es den Eindruck, als hätte sich
hier eine kleine Welt für sich mit ganz eigenartigen gesellschaftlichen Gesetzen
herausgebildet.

Bleibt schließlich noch die Frage nach der Heilkraft von Davos. Die
Ansichten darüber scheinen sehr auseinanderzugehen. Unparteiische Beur¬
theiler, welche die praktischen Ergebnisse der Kur längere Zeit beobachtet
haben, versicherten mir, daß ihnen ein Fall wirklicher, gründlicher Heilung
der Lungenschwindsucht nicht bekannt geworden sei. Andererseits weiß
ich aus der eigenen Erfahrung tüchtiger Aerzte, daß eine in den ersten An'


muß. Hier hat man einen Punkt, der den berühmtesten Thalschluchten der
Alpenwelt nicht viel nachgiebt. —

Was Davos aber für den beobachtenden Reisenden ein ganz besonderes
Interesse verleiht, ist die dortige Gesellschaft. Die meisten anderen Kurorte
sind zugleich als Vergnügungsaufenthalt gesucht, haben daher ein stets
wechselndes Publikum, dessen verschiedene Elemente meistens nicht in nähere Be¬
rührung mit einander kommen, als bei den Bewohnern einer Großstadt der
Fall zu sein pflegt. Davos hat, außer den Wenigen, die um Anderer willen
das Opfer der Weltentsagung bringen, nur kranke Gäste. Und welche
Kranken! Mit geringen Ausnahmen sind es Solche, die vor dem furcht¬
barsten Erbfeinde der Menschheit, der Lungenschwindsucht, bei der Allerbar-
merin Natur die Hülfe suchen, welche menschliche Kunst ihnen nicht gewähren
kann. Darum ist langer Aufenthalt geboten, und so kommt es, daß Einer
den Anderen kennt und alle die gesellschaftlichen Beziehungen sich heraus¬
bilden, wie sie unter der dauernd mit einander verbundenen Bewohnerschaft
eines kleinen Gemeinwesens bestehen. Sehr irren aber würde man. wenn
man annähme, daß auf dieser Gesellschaft der bleierne Druck der Resignation
oder gar der Verzweiflung lastete. Im Gegentheil, man ist munter und
guter Dinge, singt und spielt, trinkt Bier, raucht sogar, macht fröhliche
Bergpartien, läuft Schlittschuh im Winter und scherzt beim Husten über die
Kraft der Lungen, welche einem noch geblieben — kurz, das Ganze trägt
das Gepräge des Galgenhumors. Aber auch die Schattenseiten des gesell¬
schaftlichen Zusammenlebens fehlen nicht. Die Gemüther befinden sich
man sagt, es sei dies eine Wirkung der hohen Lage — in einer chronischen
Ekstase, und das dient begreiflicherweise nicht gerade zur Beschwichtigung der
Leidenschaften. Die Medisance wuchert üppiger, als irgend sonst, Liebe und
Haß bewegen die Herzen stärker, als im normalen Zustande, ja es kommt
vor, daß Menschen, die sich dort droben zusammengefunden, um dem Tode
zu entrinnen, einander zum Duell herausfordern. Für den Psychologen und
den Ethiker müßte es eine anziehende Aufgabe sein, die Wirkung der hier
nur flüchtig angedeuteten Erscheinungen auf die Gestaltung des socialen
Lebens genauer zu studiren. Mir machte es den Eindruck, als hätte sich
hier eine kleine Welt für sich mit ganz eigenartigen gesellschaftlichen Gesetzen
herausgebildet.

Bleibt schließlich noch die Frage nach der Heilkraft von Davos. Die
Ansichten darüber scheinen sehr auseinanderzugehen. Unparteiische Beur¬
theiler, welche die praktischen Ergebnisse der Kur längere Zeit beobachtet
haben, versicherten mir, daß ihnen ein Fall wirklicher, gründlicher Heilung
der Lungenschwindsucht nicht bekannt geworden sei. Andererseits weiß
ich aus der eigenen Erfahrung tüchtiger Aerzte, daß eine in den ersten An'


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[0356] muß. Hier hat man einen Punkt, der den berühmtesten Thalschluchten der Alpenwelt nicht viel nachgiebt. — Was Davos aber für den beobachtenden Reisenden ein ganz besonderes Interesse verleiht, ist die dortige Gesellschaft. Die meisten anderen Kurorte sind zugleich als Vergnügungsaufenthalt gesucht, haben daher ein stets wechselndes Publikum, dessen verschiedene Elemente meistens nicht in nähere Be¬ rührung mit einander kommen, als bei den Bewohnern einer Großstadt der Fall zu sein pflegt. Davos hat, außer den Wenigen, die um Anderer willen das Opfer der Weltentsagung bringen, nur kranke Gäste. Und welche Kranken! Mit geringen Ausnahmen sind es Solche, die vor dem furcht¬ barsten Erbfeinde der Menschheit, der Lungenschwindsucht, bei der Allerbar- merin Natur die Hülfe suchen, welche menschliche Kunst ihnen nicht gewähren kann. Darum ist langer Aufenthalt geboten, und so kommt es, daß Einer den Anderen kennt und alle die gesellschaftlichen Beziehungen sich heraus¬ bilden, wie sie unter der dauernd mit einander verbundenen Bewohnerschaft eines kleinen Gemeinwesens bestehen. Sehr irren aber würde man. wenn man annähme, daß auf dieser Gesellschaft der bleierne Druck der Resignation oder gar der Verzweiflung lastete. Im Gegentheil, man ist munter und guter Dinge, singt und spielt, trinkt Bier, raucht sogar, macht fröhliche Bergpartien, läuft Schlittschuh im Winter und scherzt beim Husten über die Kraft der Lungen, welche einem noch geblieben — kurz, das Ganze trägt das Gepräge des Galgenhumors. Aber auch die Schattenseiten des gesell¬ schaftlichen Zusammenlebens fehlen nicht. Die Gemüther befinden sich man sagt, es sei dies eine Wirkung der hohen Lage — in einer chronischen Ekstase, und das dient begreiflicherweise nicht gerade zur Beschwichtigung der Leidenschaften. Die Medisance wuchert üppiger, als irgend sonst, Liebe und Haß bewegen die Herzen stärker, als im normalen Zustande, ja es kommt vor, daß Menschen, die sich dort droben zusammengefunden, um dem Tode zu entrinnen, einander zum Duell herausfordern. Für den Psychologen und den Ethiker müßte es eine anziehende Aufgabe sein, die Wirkung der hier nur flüchtig angedeuteten Erscheinungen auf die Gestaltung des socialen Lebens genauer zu studiren. Mir machte es den Eindruck, als hätte sich hier eine kleine Welt für sich mit ganz eigenartigen gesellschaftlichen Gesetzen herausgebildet. Bleibt schließlich noch die Frage nach der Heilkraft von Davos. Die Ansichten darüber scheinen sehr auseinanderzugehen. Unparteiische Beur¬ theiler, welche die praktischen Ergebnisse der Kur längere Zeit beobachtet haben, versicherten mir, daß ihnen ein Fall wirklicher, gründlicher Heilung der Lungenschwindsucht nicht bekannt geworden sei. Andererseits weiß ich aus der eigenen Erfahrung tüchtiger Aerzte, daß eine in den ersten An'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/356>, abgerufen am 19.10.2024.