Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.in bedenklich schiefem Winkel sendet, der Abend die Genossen des Hauses Was mag es sein, das diesen sonnigen Herbsttagen über das Gemüth in bedenklich schiefem Winkel sendet, der Abend die Genossen des Hauses Was mag es sein, das diesen sonnigen Herbsttagen über das Gemüth <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0352" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136991"/> <p xml:id="ID_1115" prev="#ID_1114"> in bedenklich schiefem Winkel sendet, der Abend die Genossen des Hauses<lb/> schon wieder um den traulichen Theetisch sammelt! Soll es ihm wirklich<lb/> versagt sein, Verjüngung zu trinken an dem Quell, da sie allein ächt zu<lb/> finden, in der ewig jungfräulichen Erhabenheit des Hochgebirges? — Mit¬<lb/> leidiges Lächeln begleitete mich, als ich im letzten Drittel des September<lb/> den Freunden Lebewohl sagte, um nach der Schweiz und Tirol zu gehen.<lb/> Allerdings, seit dem 26. August hatte es kaum einmal ernstlich aufgehört<lb/> zu regnen; dabei eine Temperatur, daß die Kohlen» und Brennholzlager<lb/> überlaufen wurden von vorsorglicher Hausvätern, die den Winterbedarf bei<lb/> Zeiten zu sichern trachteten. Aber um so stärker war meine Zuversicht. In<lb/> Süddeutschland schon zertheilten sich die Wolken, und als ich von der alten<lb/> Reichsstadt Lindau nach dem schweizerischen Gestade hinüberdampfte, da war<lb/> der endlose Spiegel des schwäbischen Meeres von freundlich warmer Sonne<lb/> beschienen, lieblicher als je winkten die grünen Matten des Appenzeller Landes<lb/> herüber, und droben ragten im lichten Aether die stolzen Schneefelder des<lb/> sentis. Noch gelang es wohl den finsteren Mächten, mir auf der Fahrt<lb/> das Rheinthal hinauf hie und da einen Berggipfel zu verschleiern; selbst alle<lb/> Schleusen wurden zu guter Zeit noch einmal aufgezogen. Am andern Morgen<lb/> aber lachte ein wolkenloser Himmel in das enge Thal hernieder, goldner<lb/> Sonnenschein lag auf den Bergeshalden, der Sieg der guten Gottheit war<lb/> entschieden, und es begann für 1876 die schönste Jahreszeit.</p><lb/> <p xml:id="ID_1116"> Was mag es sein, das diesen sonnigen Herbsttagen über das Gemüth<lb/> eine so eigenartige, wunderbare Macht verleiht? Die rein äußerliche Wirkung<lb/> des größeren Farbenreichthums in der Natur reicht nicht aus, die Thatsache<lb/> zu erklären. Aber doch liegt hier die Lösung des Räthsels. Jede Mannich-<lb/> faltigkeit von Eindrücken hat etwas Anregendes, Belebendes; eine Mannich'<lb/> sättigten von Farbeneffecten zumal, wenn sie unter einander Harmoniren,<lb/> wird niemals auf die Seele der erheiternden Wirkung verfehlen. Dazu kommt<lb/> andrerseits die Eigenart der herbstlichen Tinten. Dieses Grün, Roth, Gelb<lb/> der Blätter trägt nicht das Gepräge frischer Lebenskraft, der Keim des Todes<lb/> blickt unverkennbar hervor aus diesen matt abgetöntem Farben. Und so mischt<lb/> sich mit der Freude an der bunten Nüaneirung das schmerzliche Gefühl<lb/> welches der Anblick verwelkenden Lebens erzeugt, und über das Gemüth lagert<lb/> sich jene seltsame Stimmung, welche man als heitere Wehmuth bezeichnen<lb/> könnte. Nehmt dazu den überwältigenden Eindruck, den die ununterbrochene<lb/> Endlosigkeit des Aethers — oder, wie es der gewöhnliche Sprachgebrauch<lb/> nennt, der „wolkenlose blaue Himmel" — hervorbringt, versetzt Euch zudem<lb/> mitten hinein in die großartigen Formen des Hochgebirges, und Ihr begreift,<lb/> warum das Anschauen der Natur niemals entzückender und ergreifender ZU'<lb/> gleich sein kann, als in dem von den Reiselustigen so arg verkannten Herbst.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0352]
in bedenklich schiefem Winkel sendet, der Abend die Genossen des Hauses
schon wieder um den traulichen Theetisch sammelt! Soll es ihm wirklich
versagt sein, Verjüngung zu trinken an dem Quell, da sie allein ächt zu
finden, in der ewig jungfräulichen Erhabenheit des Hochgebirges? — Mit¬
leidiges Lächeln begleitete mich, als ich im letzten Drittel des September
den Freunden Lebewohl sagte, um nach der Schweiz und Tirol zu gehen.
Allerdings, seit dem 26. August hatte es kaum einmal ernstlich aufgehört
zu regnen; dabei eine Temperatur, daß die Kohlen» und Brennholzlager
überlaufen wurden von vorsorglicher Hausvätern, die den Winterbedarf bei
Zeiten zu sichern trachteten. Aber um so stärker war meine Zuversicht. In
Süddeutschland schon zertheilten sich die Wolken, und als ich von der alten
Reichsstadt Lindau nach dem schweizerischen Gestade hinüberdampfte, da war
der endlose Spiegel des schwäbischen Meeres von freundlich warmer Sonne
beschienen, lieblicher als je winkten die grünen Matten des Appenzeller Landes
herüber, und droben ragten im lichten Aether die stolzen Schneefelder des
sentis. Noch gelang es wohl den finsteren Mächten, mir auf der Fahrt
das Rheinthal hinauf hie und da einen Berggipfel zu verschleiern; selbst alle
Schleusen wurden zu guter Zeit noch einmal aufgezogen. Am andern Morgen
aber lachte ein wolkenloser Himmel in das enge Thal hernieder, goldner
Sonnenschein lag auf den Bergeshalden, der Sieg der guten Gottheit war
entschieden, und es begann für 1876 die schönste Jahreszeit.
Was mag es sein, das diesen sonnigen Herbsttagen über das Gemüth
eine so eigenartige, wunderbare Macht verleiht? Die rein äußerliche Wirkung
des größeren Farbenreichthums in der Natur reicht nicht aus, die Thatsache
zu erklären. Aber doch liegt hier die Lösung des Räthsels. Jede Mannich-
faltigkeit von Eindrücken hat etwas Anregendes, Belebendes; eine Mannich'
sättigten von Farbeneffecten zumal, wenn sie unter einander Harmoniren,
wird niemals auf die Seele der erheiternden Wirkung verfehlen. Dazu kommt
andrerseits die Eigenart der herbstlichen Tinten. Dieses Grün, Roth, Gelb
der Blätter trägt nicht das Gepräge frischer Lebenskraft, der Keim des Todes
blickt unverkennbar hervor aus diesen matt abgetöntem Farben. Und so mischt
sich mit der Freude an der bunten Nüaneirung das schmerzliche Gefühl
welches der Anblick verwelkenden Lebens erzeugt, und über das Gemüth lagert
sich jene seltsame Stimmung, welche man als heitere Wehmuth bezeichnen
könnte. Nehmt dazu den überwältigenden Eindruck, den die ununterbrochene
Endlosigkeit des Aethers — oder, wie es der gewöhnliche Sprachgebrauch
nennt, der „wolkenlose blaue Himmel" — hervorbringt, versetzt Euch zudem
mitten hinein in die großartigen Formen des Hochgebirges, und Ihr begreift,
warum das Anschauen der Natur niemals entzückender und ergreifender ZU'
gleich sein kann, als in dem von den Reiselustigen so arg verkannten Herbst.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |