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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Namen sind Zeichen oder Werthe für Sachen, die sie bedeuten, und
wenn auch freilich die Sache, die der neue Name bezeichnet, immerhin noch
Materialismus ist, so ist doch die Namensänderung wohl auch ein Zeichen,
daß die Sache selbst als ungenügend empfunden wurde und daß man nach
Anderem strebt, was nur idealer Monismus sein kann. Zu den Zeichen,
daß der Geist der Zeit aus dem materialistischen Fahrwasser sich wieder
zu idealeren Bahnen erhebe, rechne ich aber auch die Thatsache, daß die
letzten Jahre eine auffallende Menge von Schriften brachte, welche alle
von Kant redend, seine wahre Meinung wieder lebendig machen wollen.
Nun ist richtig, daß Viele in Kant einen Begründer des Materialismus
sehen, aber die unbestrittenere Thatsache ist doch die, daß an seinen Namen
sich der idealste Idealismus knüpft und daß sein kategorischer Imperativ aus
der vollsten Ueberzeugung von der Existenz der sittlichen Freiheit des Menschen
quillt; und deshalb wird eine Zeit, die sich wahrhaft mit Kant beschäftigt,
sich nie seiner idealen Zugkraft entziehen können.

Also vor 19 Jahren ein offener, breitgetretener Materialismus, der seit
1859 durch Darwins Gedanken ins speculative Fahrwasser geräth und dabei
transmutirt wird, so daß er jetzt es sogar als größere Ehre achtet, Monis¬
mus oder Idealismus genannt zu werden. Die Morgendämmerung eines
wiedererwachenden deutschen Idealismus erblicken wir in diesem Namens¬
wechsel und begrüßen um so freudiger die zweite Auflage von Lazarus' Leben
der Seele, deren erstes Erscheinen 18S7, also auch vor etwa 19 Jahren ge¬
schah und damals in der voll materialistischen Strömung allzu unbeachtet
blieb. Diesmal aber tritt sie in die idealreale Strömung zu gelegenerer Stunde
auf; denn sie lebt und athmet in Wahrheit in Jdealrealismus und zugleich,
wenn sie auch nicht über Kant polemisirt, lebt und athmet sie ganz in den Prin¬
cipien, durch die er der Reformator des Denkens wurde und wegen deren er
heute wieder allseitig angerufen wird. Es ist daher wohl interessant, auf die Be¬
deutung und den Inhalt der Schrift von Lazarus näher einzugehen, nachdem wir
früher*) einen einzelnen Punkt, das Gesetz der Apperception besprochen haben.

Zwei Dinge waren es, welche Kant stets mit Bewunderung erfüllten:
das moralische Gesetz in ihm und der gestirnte Himmel über ihm. Die
erste Bewunderung machte ihn zum Copernicus in der Auffassung des Geistes.
Denn die Seele, die seither als einfach ausnehmendes Wesen, wie eine un¬
beschriebene Tafel vorgestellt wurde, ward seit ihm begriffen als eine frei-
thätig synthetische Kraft, so daß die Welt gemäß dem Vermögen dieser Kraft
dem Menschen erscheinen muß. Die zweite Bewunderung ließ ihn die Ent¬
wickelung des Planetensystems entdecken und machte ihn auch zum Copernicus
in der Betrachtung der Natur, oder richtiger zum Erweiterer Newton's in



") GrenMen it. 1876. S. Z21 ff.
Hrenjboten lV. 1876.24

Namen sind Zeichen oder Werthe für Sachen, die sie bedeuten, und
wenn auch freilich die Sache, die der neue Name bezeichnet, immerhin noch
Materialismus ist, so ist doch die Namensänderung wohl auch ein Zeichen,
daß die Sache selbst als ungenügend empfunden wurde und daß man nach
Anderem strebt, was nur idealer Monismus sein kann. Zu den Zeichen,
daß der Geist der Zeit aus dem materialistischen Fahrwasser sich wieder
zu idealeren Bahnen erhebe, rechne ich aber auch die Thatsache, daß die
letzten Jahre eine auffallende Menge von Schriften brachte, welche alle
von Kant redend, seine wahre Meinung wieder lebendig machen wollen.
Nun ist richtig, daß Viele in Kant einen Begründer des Materialismus
sehen, aber die unbestrittenere Thatsache ist doch die, daß an seinen Namen
sich der idealste Idealismus knüpft und daß sein kategorischer Imperativ aus
der vollsten Ueberzeugung von der Existenz der sittlichen Freiheit des Menschen
quillt; und deshalb wird eine Zeit, die sich wahrhaft mit Kant beschäftigt,
sich nie seiner idealen Zugkraft entziehen können.

Also vor 19 Jahren ein offener, breitgetretener Materialismus, der seit
1859 durch Darwins Gedanken ins speculative Fahrwasser geräth und dabei
transmutirt wird, so daß er jetzt es sogar als größere Ehre achtet, Monis¬
mus oder Idealismus genannt zu werden. Die Morgendämmerung eines
wiedererwachenden deutschen Idealismus erblicken wir in diesem Namens¬
wechsel und begrüßen um so freudiger die zweite Auflage von Lazarus' Leben
der Seele, deren erstes Erscheinen 18S7, also auch vor etwa 19 Jahren ge¬
schah und damals in der voll materialistischen Strömung allzu unbeachtet
blieb. Diesmal aber tritt sie in die idealreale Strömung zu gelegenerer Stunde
auf; denn sie lebt und athmet in Wahrheit in Jdealrealismus und zugleich,
wenn sie auch nicht über Kant polemisirt, lebt und athmet sie ganz in den Prin¬
cipien, durch die er der Reformator des Denkens wurde und wegen deren er
heute wieder allseitig angerufen wird. Es ist daher wohl interessant, auf die Be¬
deutung und den Inhalt der Schrift von Lazarus näher einzugehen, nachdem wir
früher*) einen einzelnen Punkt, das Gesetz der Apperception besprochen haben.

Zwei Dinge waren es, welche Kant stets mit Bewunderung erfüllten:
das moralische Gesetz in ihm und der gestirnte Himmel über ihm. Die
erste Bewunderung machte ihn zum Copernicus in der Auffassung des Geistes.
Denn die Seele, die seither als einfach ausnehmendes Wesen, wie eine un¬
beschriebene Tafel vorgestellt wurde, ward seit ihm begriffen als eine frei-
thätig synthetische Kraft, so daß die Welt gemäß dem Vermögen dieser Kraft
dem Menschen erscheinen muß. Die zweite Bewunderung ließ ihn die Ent¬
wickelung des Planetensystems entdecken und machte ihn auch zum Copernicus
in der Betrachtung der Natur, oder richtiger zum Erweiterer Newton's in



") GrenMen it. 1876. S. Z21 ff.
Hrenjboten lV. 1876.24
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[0189] Namen sind Zeichen oder Werthe für Sachen, die sie bedeuten, und wenn auch freilich die Sache, die der neue Name bezeichnet, immerhin noch Materialismus ist, so ist doch die Namensänderung wohl auch ein Zeichen, daß die Sache selbst als ungenügend empfunden wurde und daß man nach Anderem strebt, was nur idealer Monismus sein kann. Zu den Zeichen, daß der Geist der Zeit aus dem materialistischen Fahrwasser sich wieder zu idealeren Bahnen erhebe, rechne ich aber auch die Thatsache, daß die letzten Jahre eine auffallende Menge von Schriften brachte, welche alle von Kant redend, seine wahre Meinung wieder lebendig machen wollen. Nun ist richtig, daß Viele in Kant einen Begründer des Materialismus sehen, aber die unbestrittenere Thatsache ist doch die, daß an seinen Namen sich der idealste Idealismus knüpft und daß sein kategorischer Imperativ aus der vollsten Ueberzeugung von der Existenz der sittlichen Freiheit des Menschen quillt; und deshalb wird eine Zeit, die sich wahrhaft mit Kant beschäftigt, sich nie seiner idealen Zugkraft entziehen können. Also vor 19 Jahren ein offener, breitgetretener Materialismus, der seit 1859 durch Darwins Gedanken ins speculative Fahrwasser geräth und dabei transmutirt wird, so daß er jetzt es sogar als größere Ehre achtet, Monis¬ mus oder Idealismus genannt zu werden. Die Morgendämmerung eines wiedererwachenden deutschen Idealismus erblicken wir in diesem Namens¬ wechsel und begrüßen um so freudiger die zweite Auflage von Lazarus' Leben der Seele, deren erstes Erscheinen 18S7, also auch vor etwa 19 Jahren ge¬ schah und damals in der voll materialistischen Strömung allzu unbeachtet blieb. Diesmal aber tritt sie in die idealreale Strömung zu gelegenerer Stunde auf; denn sie lebt und athmet in Wahrheit in Jdealrealismus und zugleich, wenn sie auch nicht über Kant polemisirt, lebt und athmet sie ganz in den Prin¬ cipien, durch die er der Reformator des Denkens wurde und wegen deren er heute wieder allseitig angerufen wird. Es ist daher wohl interessant, auf die Be¬ deutung und den Inhalt der Schrift von Lazarus näher einzugehen, nachdem wir früher*) einen einzelnen Punkt, das Gesetz der Apperception besprochen haben. Zwei Dinge waren es, welche Kant stets mit Bewunderung erfüllten: das moralische Gesetz in ihm und der gestirnte Himmel über ihm. Die erste Bewunderung machte ihn zum Copernicus in der Auffassung des Geistes. Denn die Seele, die seither als einfach ausnehmendes Wesen, wie eine un¬ beschriebene Tafel vorgestellt wurde, ward seit ihm begriffen als eine frei- thätig synthetische Kraft, so daß die Welt gemäß dem Vermögen dieser Kraft dem Menschen erscheinen muß. Die zweite Bewunderung ließ ihn die Ent¬ wickelung des Planetensystems entdecken und machte ihn auch zum Copernicus in der Betrachtung der Natur, oder richtiger zum Erweiterer Newton's in ") GrenMen it. 1876. S. Z21 ff. Hrenjboten lV. 1876.24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/189>, abgerufen am 19.10.2024.