Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Religion zu gelangen. Der Verfasser weist diesen Zweifel zurück durch den
Hinweis auf den in sich selbst so widerspruchsvollen und dem Problem des
sittlichen Lebens gegenüber so unzureichenden Gedankenkreis der sogenannten
exacten Wissenschaft. Den Einfluß und die augenblickliche Stärke dieses Ge¬
dankenkreises in Deutschland schlägt der Verfasser freilich bei weitem zu gering
an. Er verläßt sich darauf, daß Deutschland der unversieglich fruchtbare
Boden des sittlichen Idealismus und der wissenschaftlichen Speculation sei.
Wir wollen wünschen, daß das Vertrauen des Verfassers durch eine nicht zu
ferne Entwicklung gerechtfertigt werde. Es fehlt wenigstens nicht an allen
Anzeichen einer solchen.

Das vorige Jahrhundert hatte sich mit der Einsicht durchdrungen, daß
nichts ungewisser und unvollständiger als die sinnliche Wahrnehmung, die
ihre eignen unentbehrlichen Voraussetzungen außerhalb ihrer selbst nehmen
muß, wie man damals mit einer für jeden Wissensfähigen nicht mehr an¬
fechtbaren Sicherheit erkannte. Unser Jahrhundert hat sich wieder in den
gedankenlosen Glauben an die Zureichenheit der sinnlichen Wahrnehmung
gestürzt. Indem nun der Versuch unternommen wird, mittelst dieser Wahr¬
nehmung zu einem Ganzen des Weltverständnisses zu gelangen, wird, ehe man
es sich versieht, der kühnste Sprung in die Methaphysik mit einer Bewußt¬
losigkeit und Naivetät sonder Gleichen gewagt. Wenn wir kürzlich in einem
sehr kenntnißreichen Aufsatz über die Theorien der Materie schließlich die Ab¬
leitung der Materie aus ausdehnungslosen Kraftatomen gegeben fanden, so
erkennen wir mit Genugthuung und Verwunderung, daß wir uns nicht mehr
in den Vorhöfen, sondern bereits im siebenten Himmel der Methaphysik be¬
finden. Einen ähnlichen Eindruck empfängt wohl auch derjenige, der in dem
jüngst erschienenen dritten Heft der meist populären wissenschaftlichen Vorträge
von Helmholz den Schluß des Vortrages über die Entstehung des Planeten¬
systems gelesen hat.

Wir versuchen eine weitere Andeutung über die Beschaffenheit der Sack¬
gasse, in welche zur Zeit die Theorie des geistigen Lebens in Deutschland sich
verlaufen hat. Kant hatte der deutschen Nation folgende Erkenntniß als
Vermächtniß hinterlassen, das unentreißbar war, so lange die denkende Kraft
der Nation fähig blieb, sich zur Höhe dieses Denkens zu erheben. Die sinn¬
liche Wahrnehmung ergiebt keine zusammenhängende gesetzmäßige objective
Welt; der Zusammenhang der sinnlichen Welt ist nie in dieser zu finden,
sondern beruht allein auf den ursprünglichen Handlungen des Bewußtseins,
welches diese Welt erst schaffet. Das Bewußtsein kann nicht von dem mecha¬
nischen Zusammenhang abhängig sein, den es selbst erst schafft; das Bewußt¬
sein setzt eine Welt von Zweckvorstellungen und bringt durch die Einführung
derselben in die sinnliche Welt die Kultur hervor. -- Dies ist nicht die voll-


Grenzboten III. 1876. 55

Religion zu gelangen. Der Verfasser weist diesen Zweifel zurück durch den
Hinweis auf den in sich selbst so widerspruchsvollen und dem Problem des
sittlichen Lebens gegenüber so unzureichenden Gedankenkreis der sogenannten
exacten Wissenschaft. Den Einfluß und die augenblickliche Stärke dieses Ge¬
dankenkreises in Deutschland schlägt der Verfasser freilich bei weitem zu gering
an. Er verläßt sich darauf, daß Deutschland der unversieglich fruchtbare
Boden des sittlichen Idealismus und der wissenschaftlichen Speculation sei.
Wir wollen wünschen, daß das Vertrauen des Verfassers durch eine nicht zu
ferne Entwicklung gerechtfertigt werde. Es fehlt wenigstens nicht an allen
Anzeichen einer solchen.

Das vorige Jahrhundert hatte sich mit der Einsicht durchdrungen, daß
nichts ungewisser und unvollständiger als die sinnliche Wahrnehmung, die
ihre eignen unentbehrlichen Voraussetzungen außerhalb ihrer selbst nehmen
muß, wie man damals mit einer für jeden Wissensfähigen nicht mehr an¬
fechtbaren Sicherheit erkannte. Unser Jahrhundert hat sich wieder in den
gedankenlosen Glauben an die Zureichenheit der sinnlichen Wahrnehmung
gestürzt. Indem nun der Versuch unternommen wird, mittelst dieser Wahr¬
nehmung zu einem Ganzen des Weltverständnisses zu gelangen, wird, ehe man
es sich versieht, der kühnste Sprung in die Methaphysik mit einer Bewußt¬
losigkeit und Naivetät sonder Gleichen gewagt. Wenn wir kürzlich in einem
sehr kenntnißreichen Aufsatz über die Theorien der Materie schließlich die Ab¬
leitung der Materie aus ausdehnungslosen Kraftatomen gegeben fanden, so
erkennen wir mit Genugthuung und Verwunderung, daß wir uns nicht mehr
in den Vorhöfen, sondern bereits im siebenten Himmel der Methaphysik be¬
finden. Einen ähnlichen Eindruck empfängt wohl auch derjenige, der in dem
jüngst erschienenen dritten Heft der meist populären wissenschaftlichen Vorträge
von Helmholz den Schluß des Vortrages über die Entstehung des Planeten¬
systems gelesen hat.

Wir versuchen eine weitere Andeutung über die Beschaffenheit der Sack¬
gasse, in welche zur Zeit die Theorie des geistigen Lebens in Deutschland sich
verlaufen hat. Kant hatte der deutschen Nation folgende Erkenntniß als
Vermächtniß hinterlassen, das unentreißbar war, so lange die denkende Kraft
der Nation fähig blieb, sich zur Höhe dieses Denkens zu erheben. Die sinn¬
liche Wahrnehmung ergiebt keine zusammenhängende gesetzmäßige objective
Welt; der Zusammenhang der sinnlichen Welt ist nie in dieser zu finden,
sondern beruht allein auf den ursprünglichen Handlungen des Bewußtseins,
welches diese Welt erst schaffet. Das Bewußtsein kann nicht von dem mecha¬
nischen Zusammenhang abhängig sein, den es selbst erst schafft; das Bewußt¬
sein setzt eine Welt von Zweckvorstellungen und bringt durch die Einführung
derselben in die sinnliche Welt die Kultur hervor. — Dies ist nicht die voll-


Grenzboten III. 1876. 55
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0441" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136552"/>
          <p xml:id="ID_1137" prev="#ID_1136"> Religion zu gelangen. Der Verfasser weist diesen Zweifel zurück durch den<lb/>
Hinweis auf den in sich selbst so widerspruchsvollen und dem Problem des<lb/>
sittlichen Lebens gegenüber so unzureichenden Gedankenkreis der sogenannten<lb/>
exacten Wissenschaft. Den Einfluß und die augenblickliche Stärke dieses Ge¬<lb/>
dankenkreises in Deutschland schlägt der Verfasser freilich bei weitem zu gering<lb/>
an. Er verläßt sich darauf, daß Deutschland der unversieglich fruchtbare<lb/>
Boden des sittlichen Idealismus und der wissenschaftlichen Speculation sei.<lb/>
Wir wollen wünschen, daß das Vertrauen des Verfassers durch eine nicht zu<lb/>
ferne Entwicklung gerechtfertigt werde. Es fehlt wenigstens nicht an allen<lb/>
Anzeichen einer solchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1138"> Das vorige Jahrhundert hatte sich mit der Einsicht durchdrungen, daß<lb/>
nichts ungewisser und unvollständiger als die sinnliche Wahrnehmung, die<lb/>
ihre eignen unentbehrlichen Voraussetzungen außerhalb ihrer selbst nehmen<lb/>
muß, wie man damals mit einer für jeden Wissensfähigen nicht mehr an¬<lb/>
fechtbaren Sicherheit erkannte. Unser Jahrhundert hat sich wieder in den<lb/>
gedankenlosen Glauben an die Zureichenheit der sinnlichen Wahrnehmung<lb/>
gestürzt. Indem nun der Versuch unternommen wird, mittelst dieser Wahr¬<lb/>
nehmung zu einem Ganzen des Weltverständnisses zu gelangen, wird, ehe man<lb/>
es sich versieht, der kühnste Sprung in die Methaphysik mit einer Bewußt¬<lb/>
losigkeit und Naivetät sonder Gleichen gewagt. Wenn wir kürzlich in einem<lb/>
sehr kenntnißreichen Aufsatz über die Theorien der Materie schließlich die Ab¬<lb/>
leitung der Materie aus ausdehnungslosen Kraftatomen gegeben fanden, so<lb/>
erkennen wir mit Genugthuung und Verwunderung, daß wir uns nicht mehr<lb/>
in den Vorhöfen, sondern bereits im siebenten Himmel der Methaphysik be¬<lb/>
finden. Einen ähnlichen Eindruck empfängt wohl auch derjenige, der in dem<lb/>
jüngst erschienenen dritten Heft der meist populären wissenschaftlichen Vorträge<lb/>
von Helmholz den Schluß des Vortrages über die Entstehung des Planeten¬<lb/>
systems gelesen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1139" next="#ID_1140"> Wir versuchen eine weitere Andeutung über die Beschaffenheit der Sack¬<lb/>
gasse, in welche zur Zeit die Theorie des geistigen Lebens in Deutschland sich<lb/>
verlaufen hat. Kant hatte der deutschen Nation folgende Erkenntniß als<lb/>
Vermächtniß hinterlassen, das unentreißbar war, so lange die denkende Kraft<lb/>
der Nation fähig blieb, sich zur Höhe dieses Denkens zu erheben. Die sinn¬<lb/>
liche Wahrnehmung ergiebt keine zusammenhängende gesetzmäßige objective<lb/>
Welt; der Zusammenhang der sinnlichen Welt ist nie in dieser zu finden,<lb/>
sondern beruht allein auf den ursprünglichen Handlungen des Bewußtseins,<lb/>
welches diese Welt erst schaffet. Das Bewußtsein kann nicht von dem mecha¬<lb/>
nischen Zusammenhang abhängig sein, den es selbst erst schafft; das Bewußt¬<lb/>
sein setzt eine Welt von Zweckvorstellungen und bringt durch die Einführung<lb/>
derselben in die sinnliche Welt die Kultur hervor. &#x2014; Dies ist nicht die voll-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1876. 55</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0441] Religion zu gelangen. Der Verfasser weist diesen Zweifel zurück durch den Hinweis auf den in sich selbst so widerspruchsvollen und dem Problem des sittlichen Lebens gegenüber so unzureichenden Gedankenkreis der sogenannten exacten Wissenschaft. Den Einfluß und die augenblickliche Stärke dieses Ge¬ dankenkreises in Deutschland schlägt der Verfasser freilich bei weitem zu gering an. Er verläßt sich darauf, daß Deutschland der unversieglich fruchtbare Boden des sittlichen Idealismus und der wissenschaftlichen Speculation sei. Wir wollen wünschen, daß das Vertrauen des Verfassers durch eine nicht zu ferne Entwicklung gerechtfertigt werde. Es fehlt wenigstens nicht an allen Anzeichen einer solchen. Das vorige Jahrhundert hatte sich mit der Einsicht durchdrungen, daß nichts ungewisser und unvollständiger als die sinnliche Wahrnehmung, die ihre eignen unentbehrlichen Voraussetzungen außerhalb ihrer selbst nehmen muß, wie man damals mit einer für jeden Wissensfähigen nicht mehr an¬ fechtbaren Sicherheit erkannte. Unser Jahrhundert hat sich wieder in den gedankenlosen Glauben an die Zureichenheit der sinnlichen Wahrnehmung gestürzt. Indem nun der Versuch unternommen wird, mittelst dieser Wahr¬ nehmung zu einem Ganzen des Weltverständnisses zu gelangen, wird, ehe man es sich versieht, der kühnste Sprung in die Methaphysik mit einer Bewußt¬ losigkeit und Naivetät sonder Gleichen gewagt. Wenn wir kürzlich in einem sehr kenntnißreichen Aufsatz über die Theorien der Materie schließlich die Ab¬ leitung der Materie aus ausdehnungslosen Kraftatomen gegeben fanden, so erkennen wir mit Genugthuung und Verwunderung, daß wir uns nicht mehr in den Vorhöfen, sondern bereits im siebenten Himmel der Methaphysik be¬ finden. Einen ähnlichen Eindruck empfängt wohl auch derjenige, der in dem jüngst erschienenen dritten Heft der meist populären wissenschaftlichen Vorträge von Helmholz den Schluß des Vortrages über die Entstehung des Planeten¬ systems gelesen hat. Wir versuchen eine weitere Andeutung über die Beschaffenheit der Sack¬ gasse, in welche zur Zeit die Theorie des geistigen Lebens in Deutschland sich verlaufen hat. Kant hatte der deutschen Nation folgende Erkenntniß als Vermächtniß hinterlassen, das unentreißbar war, so lange die denkende Kraft der Nation fähig blieb, sich zur Höhe dieses Denkens zu erheben. Die sinn¬ liche Wahrnehmung ergiebt keine zusammenhängende gesetzmäßige objective Welt; der Zusammenhang der sinnlichen Welt ist nie in dieser zu finden, sondern beruht allein auf den ursprünglichen Handlungen des Bewußtseins, welches diese Welt erst schaffet. Das Bewußtsein kann nicht von dem mecha¬ nischen Zusammenhang abhängig sein, den es selbst erst schafft; das Bewußt¬ sein setzt eine Welt von Zweckvorstellungen und bringt durch die Einführung derselben in die sinnliche Welt die Kultur hervor. — Dies ist nicht die voll- Grenzboten III. 1876. 55

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/441
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/441>, abgerufen am 26.06.2024.