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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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standen. Nun, ich meine, daß er sich damit ein unbestreitbares Verdienst er¬
worben hat. Ich kann mir auch für derartige Vorlesungen kaum einen
fruchtbareren propädeutischen Stoff denken, einen Stoff, in dem die^ Gym¬
nasialstudien eine ersprießlichere Fortsetzung finden könnten, als den "Laokoon".
Daß in erster Linie nicht der Literarhistoriker, nicht der Philosoph, sondern
der Archäolog zu solchen Vorlesungen berufen ist, darüber kann kein Zweifel
sein; ich fürchte nur sehr, daß wenige Archäologen Lust haben werden, Blümner
darin zu folgen. Warum? Nun eben deshalb, weil der Archäolog nur in
erster Linie, aber nicht ausschließlich dazu berufen .ist. Justi sagt in der
Vorrede zu seiner Biographie Winckelmann's, er habe gehofft, als er dieselbe
unternommen, daß sie wenig Veranlassung geben werde, aus dem Umkreis
der Archäologie herauszuschweifen; als er aber der Ausführung näher getreten,
da habe sich bald gezeigt, wie sehr Winckelmann dem Zeitalter der Poly-
mathie seinen Zoll entrichtet hatte, und wie sehr man felbst ein wenig zum
Polyhistor werden müsse, wenn man ihm auf seinen Pfaden nachgehen
wolle. Sollte nicht Blümner ähnliches an sich erfahren haben, als er seinen
Commentar zum "Laokoon" ausarbeitete? Als Archäolog ist er an seine Auf¬
gabe hinangetreten, und als er sie vollendet hatte, da wcrr auch er "ein wenig
zum Polyhistor" geworden. Vor der Polymathie aber hat jetzt der correcte
deutsche Gelehrte einen heiligen Respect, weil sie ihm unzertrennlich dünkt
vom Dilettantismus. Vom alten protsssvr xoösöos aus dem 18. Jahr¬
hundert, der in allen Sätteln gerecht sein mußte und auch gerecht war,
mag heute Niemand mehr etwas wissen. "Wie fruchtbar ist der kleinste
Kreis, wenn man ihn wohl zu pflegen weiß", dies Goethische Sprüchlein ist,
bewußt oder unbewußt, der Wahlspruch unserer heutigen Gelehrsamkeit geworden.
Polymathie ist ein Ding, das man nur noch dem "Literaten" und allenfalls
dem Schulmeister -- verzeiht. Und so wird wohl auch die Lectüre der
Lessing'schen Schrift in der Hauptsache auf die Schule angewiesen bleiben.
Daher glaube ich denn auch, daß, wenn sich Blümner irgend .ein Publikum
durch seine Arbeit zu Danke verpflichtet hat, es die Lehrer der deutschen
Sprache an unsern höhern Lehranstalten sind. Für sie ist Blümners Lao-
koonausgabe geradezu ein Ereigniß. Er selbst verwahrt sich zwar ausdrück¬
lich dagegen, sie für eine "Schulaufgabe" zu halten, er meint, er habe sie "in
erster Linie für die Kunstfreunde bestimmt", in zweiter für Studenten, in
dritter erst für Lehrer. Wenn man nur wüßte, wo diese laokoonstudirenden
"Kunstfreunde" zu suchen wären! Ich kann mir beim besten Willen kein
Publikum darunter denken, und fürchte, daß der Verleger, wenn er mit
seinem Absatz wirklich auf die "Kunstfreunde" angewiesen bleiben sollte, ein
klägliches Geschäft machen würde. Kaufen wird das Buch -- das ist meine


standen. Nun, ich meine, daß er sich damit ein unbestreitbares Verdienst er¬
worben hat. Ich kann mir auch für derartige Vorlesungen kaum einen
fruchtbareren propädeutischen Stoff denken, einen Stoff, in dem die^ Gym¬
nasialstudien eine ersprießlichere Fortsetzung finden könnten, als den „Laokoon".
Daß in erster Linie nicht der Literarhistoriker, nicht der Philosoph, sondern
der Archäolog zu solchen Vorlesungen berufen ist, darüber kann kein Zweifel
sein; ich fürchte nur sehr, daß wenige Archäologen Lust haben werden, Blümner
darin zu folgen. Warum? Nun eben deshalb, weil der Archäolog nur in
erster Linie, aber nicht ausschließlich dazu berufen .ist. Justi sagt in der
Vorrede zu seiner Biographie Winckelmann's, er habe gehofft, als er dieselbe
unternommen, daß sie wenig Veranlassung geben werde, aus dem Umkreis
der Archäologie herauszuschweifen; als er aber der Ausführung näher getreten,
da habe sich bald gezeigt, wie sehr Winckelmann dem Zeitalter der Poly-
mathie seinen Zoll entrichtet hatte, und wie sehr man felbst ein wenig zum
Polyhistor werden müsse, wenn man ihm auf seinen Pfaden nachgehen
wolle. Sollte nicht Blümner ähnliches an sich erfahren haben, als er seinen
Commentar zum „Laokoon" ausarbeitete? Als Archäolog ist er an seine Auf¬
gabe hinangetreten, und als er sie vollendet hatte, da wcrr auch er „ein wenig
zum Polyhistor" geworden. Vor der Polymathie aber hat jetzt der correcte
deutsche Gelehrte einen heiligen Respect, weil sie ihm unzertrennlich dünkt
vom Dilettantismus. Vom alten protsssvr xoösöos aus dem 18. Jahr¬
hundert, der in allen Sätteln gerecht sein mußte und auch gerecht war,
mag heute Niemand mehr etwas wissen. „Wie fruchtbar ist der kleinste
Kreis, wenn man ihn wohl zu pflegen weiß", dies Goethische Sprüchlein ist,
bewußt oder unbewußt, der Wahlspruch unserer heutigen Gelehrsamkeit geworden.
Polymathie ist ein Ding, das man nur noch dem „Literaten" und allenfalls
dem Schulmeister — verzeiht. Und so wird wohl auch die Lectüre der
Lessing'schen Schrift in der Hauptsache auf die Schule angewiesen bleiben.
Daher glaube ich denn auch, daß, wenn sich Blümner irgend .ein Publikum
durch seine Arbeit zu Danke verpflichtet hat, es die Lehrer der deutschen
Sprache an unsern höhern Lehranstalten sind. Für sie ist Blümners Lao-
koonausgabe geradezu ein Ereigniß. Er selbst verwahrt sich zwar ausdrück¬
lich dagegen, sie für eine „Schulaufgabe" zu halten, er meint, er habe sie „in
erster Linie für die Kunstfreunde bestimmt", in zweiter für Studenten, in
dritter erst für Lehrer. Wenn man nur wüßte, wo diese laokoonstudirenden
„Kunstfreunde" zu suchen wären! Ich kann mir beim besten Willen kein
Publikum darunter denken, und fürchte, daß der Verleger, wenn er mit
seinem Absatz wirklich auf die „Kunstfreunde" angewiesen bleiben sollte, ein
klägliches Geschäft machen würde. Kaufen wird das Buch — das ist meine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/416>, abgerufen am 20.10.2024.