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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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geziert und gekünstelt sind und ihre Stoffe gewöhnlich fernen Zeiten ent¬
gehen, sind die Erzählungen und schwanke dieser unmittelbar der Gegen¬
wart entnommen und geben in knapper und meist recht anschaulicher Dar¬
stellung das Thun und Leiden, die Anschauungen und Sitten des niederen
Volkes wieder. Zu der letzteren Gattung gehört auch das hier in wortgetreuer
Uebersetzung vorliegende Gedicht, welches von einem Bayern oder Oesterreicher
Wernher aller Wahrscheinlichkeit nach um das Jahr 1240 verfaßt worden ist,
und das man nicht unpassend "die älteste deutsche Dorfgeschichte" genannt hat.
Der Dichter ist ein Zeitgenosse des Stricker, der uns die humoristische Erzäh¬
lung von den Schwänken des Pfaffen Aeneis gab. Wie letztere den Kampf
der niederen Geistlichkeit gegen die Bedrückung durch ihre Obern schildern, so
führt uns der "Maier Helmbrecht" den Gegensatz der Bauernschaft gegen
den raubsüchtigen und dem Volksleben abgewendeten Adel vor, aber nicht in
der Form von Schwänken und Possen, sondern in einem tief ernsten tragisch
endenden Sittenbilde. Ein Bauernsohn verläßt gegen den Willen des Vaters
sein väterliches Haus und seinen Stand und wird als Stegreifritter die
Plage des Landes, um, nachdem er eine Zeit lang mit andern Raubgesellen
ein lustiges Leben geführt, von der Gerechtigkeit ergriffen zu werden. Vom
Richter zum Verlust der Augen, einer Hand und eines Fußes verurtheilt,
kommt der blinde Krüppel zu seinen Eltern zurück, aber der Vater treibt den
Bettler mit höhnenden Worten von dannen und bald nachher wird der Un¬
glückliche von den Bauern, die er geschädigt und gemißhandelt, umgebracht.

Das Gedicht ist in seiner Art ein kleines Kabwetsstück, einfach, mit
Ausnahme einiger Stellen, z. B. der gar zu lang ausgesponnenen Beschreibung
des Umzugs Helmbrecht's, dem von den 1934 Versen des Ganzen circa 200
gewidmet sind, sehr präcis und dabei doch höchst anschaulich und lebendig.
Mit Gewandtheit handhabt der Dichter die zahlreich eingeflochtenen Gespräche,
indem er in ihnen mit wahrhaft dramatischer Kunst den Charakter der Haupt¬
personen, des redlichen Vaters, des übermüthigen, frechen Sohnes, der leicht¬
sinnigen, eitlen Tochter und Schwester und der schwachen Mutter, durch ihre
eignen Reden vortrefflich darzustellen weiß. Kurz, das deutsche Mittelalter
weist keine Dichtung auf. welche dieser lebensvollen und ergreifenden Geschichte
aus dem Volksleben damaliger Zeit an die Seite gestellt werden könnte.
Daß der Uebersetzer nicht gekürzt und geändert hat, können wir nur billigen.
Es ist wahr, wir müssen so den etwas ungeschickten Anfang und die gar zu
breite Moral am Schlüsse, desgleichen eine Anzahl Verse, die nur des Reimes
wegen da sind, mit in den Kauf nehmen. Aber der Uebersetzer hat nicht
die Aufgabe, das Original zu verbessern, und wir gestehen ihm nicht das
Recht zu, uns statt des Ganzen einen Auszug zu geben.




Verantwortlicher Redakteur: or. Haus Blum in Leipzig.
Verlas, von K. L. Hcrbig in Leipzig. -- Druck von Hiithcl " Herrmann in Leipzig.

geziert und gekünstelt sind und ihre Stoffe gewöhnlich fernen Zeiten ent¬
gehen, sind die Erzählungen und schwanke dieser unmittelbar der Gegen¬
wart entnommen und geben in knapper und meist recht anschaulicher Dar¬
stellung das Thun und Leiden, die Anschauungen und Sitten des niederen
Volkes wieder. Zu der letzteren Gattung gehört auch das hier in wortgetreuer
Uebersetzung vorliegende Gedicht, welches von einem Bayern oder Oesterreicher
Wernher aller Wahrscheinlichkeit nach um das Jahr 1240 verfaßt worden ist,
und das man nicht unpassend „die älteste deutsche Dorfgeschichte" genannt hat.
Der Dichter ist ein Zeitgenosse des Stricker, der uns die humoristische Erzäh¬
lung von den Schwänken des Pfaffen Aeneis gab. Wie letztere den Kampf
der niederen Geistlichkeit gegen die Bedrückung durch ihre Obern schildern, so
führt uns der „Maier Helmbrecht" den Gegensatz der Bauernschaft gegen
den raubsüchtigen und dem Volksleben abgewendeten Adel vor, aber nicht in
der Form von Schwänken und Possen, sondern in einem tief ernsten tragisch
endenden Sittenbilde. Ein Bauernsohn verläßt gegen den Willen des Vaters
sein väterliches Haus und seinen Stand und wird als Stegreifritter die
Plage des Landes, um, nachdem er eine Zeit lang mit andern Raubgesellen
ein lustiges Leben geführt, von der Gerechtigkeit ergriffen zu werden. Vom
Richter zum Verlust der Augen, einer Hand und eines Fußes verurtheilt,
kommt der blinde Krüppel zu seinen Eltern zurück, aber der Vater treibt den
Bettler mit höhnenden Worten von dannen und bald nachher wird der Un¬
glückliche von den Bauern, die er geschädigt und gemißhandelt, umgebracht.

Das Gedicht ist in seiner Art ein kleines Kabwetsstück, einfach, mit
Ausnahme einiger Stellen, z. B. der gar zu lang ausgesponnenen Beschreibung
des Umzugs Helmbrecht's, dem von den 1934 Versen des Ganzen circa 200
gewidmet sind, sehr präcis und dabei doch höchst anschaulich und lebendig.
Mit Gewandtheit handhabt der Dichter die zahlreich eingeflochtenen Gespräche,
indem er in ihnen mit wahrhaft dramatischer Kunst den Charakter der Haupt¬
personen, des redlichen Vaters, des übermüthigen, frechen Sohnes, der leicht¬
sinnigen, eitlen Tochter und Schwester und der schwachen Mutter, durch ihre
eignen Reden vortrefflich darzustellen weiß. Kurz, das deutsche Mittelalter
weist keine Dichtung auf. welche dieser lebensvollen und ergreifenden Geschichte
aus dem Volksleben damaliger Zeit an die Seite gestellt werden könnte.
Daß der Uebersetzer nicht gekürzt und geändert hat, können wir nur billigen.
Es ist wahr, wir müssen so den etwas ungeschickten Anfang und die gar zu
breite Moral am Schlüsse, desgleichen eine Anzahl Verse, die nur des Reimes
wegen da sind, mit in den Kauf nehmen. Aber der Uebersetzer hat nicht
die Aufgabe, das Original zu verbessern, und wir gestehen ihm nicht das
Recht zu, uns statt des Ganzen einen Auszug zu geben.




Verantwortlicher Redakteur: or. Haus Blum in Leipzig.
Verlas, von K. L. Hcrbig in Leipzig. — Druck von Hiithcl » Herrmann in Leipzig.
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[0328] geziert und gekünstelt sind und ihre Stoffe gewöhnlich fernen Zeiten ent¬ gehen, sind die Erzählungen und schwanke dieser unmittelbar der Gegen¬ wart entnommen und geben in knapper und meist recht anschaulicher Dar¬ stellung das Thun und Leiden, die Anschauungen und Sitten des niederen Volkes wieder. Zu der letzteren Gattung gehört auch das hier in wortgetreuer Uebersetzung vorliegende Gedicht, welches von einem Bayern oder Oesterreicher Wernher aller Wahrscheinlichkeit nach um das Jahr 1240 verfaßt worden ist, und das man nicht unpassend „die älteste deutsche Dorfgeschichte" genannt hat. Der Dichter ist ein Zeitgenosse des Stricker, der uns die humoristische Erzäh¬ lung von den Schwänken des Pfaffen Aeneis gab. Wie letztere den Kampf der niederen Geistlichkeit gegen die Bedrückung durch ihre Obern schildern, so führt uns der „Maier Helmbrecht" den Gegensatz der Bauernschaft gegen den raubsüchtigen und dem Volksleben abgewendeten Adel vor, aber nicht in der Form von Schwänken und Possen, sondern in einem tief ernsten tragisch endenden Sittenbilde. Ein Bauernsohn verläßt gegen den Willen des Vaters sein väterliches Haus und seinen Stand und wird als Stegreifritter die Plage des Landes, um, nachdem er eine Zeit lang mit andern Raubgesellen ein lustiges Leben geführt, von der Gerechtigkeit ergriffen zu werden. Vom Richter zum Verlust der Augen, einer Hand und eines Fußes verurtheilt, kommt der blinde Krüppel zu seinen Eltern zurück, aber der Vater treibt den Bettler mit höhnenden Worten von dannen und bald nachher wird der Un¬ glückliche von den Bauern, die er geschädigt und gemißhandelt, umgebracht. Das Gedicht ist in seiner Art ein kleines Kabwetsstück, einfach, mit Ausnahme einiger Stellen, z. B. der gar zu lang ausgesponnenen Beschreibung des Umzugs Helmbrecht's, dem von den 1934 Versen des Ganzen circa 200 gewidmet sind, sehr präcis und dabei doch höchst anschaulich und lebendig. Mit Gewandtheit handhabt der Dichter die zahlreich eingeflochtenen Gespräche, indem er in ihnen mit wahrhaft dramatischer Kunst den Charakter der Haupt¬ personen, des redlichen Vaters, des übermüthigen, frechen Sohnes, der leicht¬ sinnigen, eitlen Tochter und Schwester und der schwachen Mutter, durch ihre eignen Reden vortrefflich darzustellen weiß. Kurz, das deutsche Mittelalter weist keine Dichtung auf. welche dieser lebensvollen und ergreifenden Geschichte aus dem Volksleben damaliger Zeit an die Seite gestellt werden könnte. Daß der Uebersetzer nicht gekürzt und geändert hat, können wir nur billigen. Es ist wahr, wir müssen so den etwas ungeschickten Anfang und die gar zu breite Moral am Schlüsse, desgleichen eine Anzahl Verse, die nur des Reimes wegen da sind, mit in den Kauf nehmen. Aber der Uebersetzer hat nicht die Aufgabe, das Original zu verbessern, und wir gestehen ihm nicht das Recht zu, uns statt des Ganzen einen Auszug zu geben. Verantwortlicher Redakteur: or. Haus Blum in Leipzig. Verlas, von K. L. Hcrbig in Leipzig. — Druck von Hiithcl » Herrmann in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/328>, abgerufen am 19.10.2024.