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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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S. 176 "die Bücher des Talmud enthalten das 800 jährige Geistesleben eines
begabten Volks", und fast noch drastischer als von diesem ideenarmen begabten
Volk heißt es S. 756 von der nordamerikanischen Union, welche sonst nicht
viel Gunst von Seiten des H. v. H. erfährt: "Vor einiger Zeit schrieb ich
von der Union beiläufig wie folgt:--Dort herrscht puritanische
Einfachheit--Handel und Wandel sind hochentwickelt, der Luxus
stehtauf außerordentlicher Höhe." S. 710 ist von der "Be¬
wegung der geistigen Cultur" die Rede. "Die Malerei (wann und wo sagt
der Verfasser wie gewöhnlich nicht) fand noch eine vielseitige ausgedehnte
Pflege zur Zeit, als Bernini seine berüchtigten "Eselsohren" dem classischen
Pantheon in Rom anklebte, im XVII. Jahrhundert sonderten sich Historien¬
malerei, Genrebild, Landschaft, Thierstück und Stillleben als selbständige
Gattungen ab, erst im nächstfolgenden Jahrhundert brach der Verfall auch dieser
Kunst herein." Sehr rasch, sehr viel rascher als durch Vormittelalter und
Mittelalter, kommen wir zur französischen Revolution; was zur Erklärung
dieses Phänomens gesagt wird, ist wie alles Uebrige. S. 719 "der franzö¬
sische Bauer stand freiheitlich unendlich höher als in den Nachbarländern",
S. 704 schon hieß es von ihm mit taciteischer Prägnanz, "er war nicht mehr
Leibeigener, ja sogar Grundbesitzer." S. 719 kommt dann das Buch in
diesem Zusammenhange auch auf den Terrorismus, "auf die blutrünstigen
Greuel, wie sie der Despotismus kaum je ärger geschaffen", und wir lesen die
greulichen Worte: "So sehr man diese schuldlosen Opfer beklagen möge,
wahrscheinlich ist doch kein Haupt zu viel unter dem Beile der Guillotine ge¬
fallen, denn das Feld menschlicher Kultur will seinen reich¬
lichen Dung haben, und dieser Dung ist -- Blut, in einer
oder der andern Weise." Der "gütige Leser" sei hier erinnert, daß der
Dung in demjenigen Theil unseres Vaterlands, in welchem H. v. H. das
Ausland redigirt, dasjenige bezeichnet, was die Elementarschüler des Landes
in ihren schriftlichen Arbeiten den Dünger zu nennen angehalten werden.

Man pflegt diesen wichtigen Stoff auch wohl Mist oder, wie H. v. H.
vielleicht schreiben würde, Myst, zu nennen: er scheint uns nicht nothwendig
immer in Blut bestehen zu müssen. Vielleicht dürfen wir ihn auch in der
Tinte begrüßen, mit welcher der Verfasser die Häupter der neueren deutschen
Philosophie, welche ihm die "spiritualistisch en Mystiker" zu nennen ge¬
fällt -- er nennt Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Ed. v.
Hartmann -- auf S. 788 schildert. "Wie die vorphilosophischen My¬
stiker ihren überirdischen Schöpfer sogleich zur Hand hatten, so nicht minder
die spiritualistisch en Mystiker" (Kant). "Das Gewirre der aus- und
ineinander laufenden Fäden der deutschen Philosophie und ihrer ausländischen
Nachfolger bedrückt den nach Klarheit strebenden Denker in demselben Maße,


S. 176 „die Bücher des Talmud enthalten das 800 jährige Geistesleben eines
begabten Volks", und fast noch drastischer als von diesem ideenarmen begabten
Volk heißt es S. 756 von der nordamerikanischen Union, welche sonst nicht
viel Gunst von Seiten des H. v. H. erfährt: „Vor einiger Zeit schrieb ich
von der Union beiläufig wie folgt:--Dort herrscht puritanische
Einfachheit--Handel und Wandel sind hochentwickelt, der Luxus
stehtauf außerordentlicher Höhe." S. 710 ist von der „Be¬
wegung der geistigen Cultur" die Rede. „Die Malerei (wann und wo sagt
der Verfasser wie gewöhnlich nicht) fand noch eine vielseitige ausgedehnte
Pflege zur Zeit, als Bernini seine berüchtigten „Eselsohren" dem classischen
Pantheon in Rom anklebte, im XVII. Jahrhundert sonderten sich Historien¬
malerei, Genrebild, Landschaft, Thierstück und Stillleben als selbständige
Gattungen ab, erst im nächstfolgenden Jahrhundert brach der Verfall auch dieser
Kunst herein." Sehr rasch, sehr viel rascher als durch Vormittelalter und
Mittelalter, kommen wir zur französischen Revolution; was zur Erklärung
dieses Phänomens gesagt wird, ist wie alles Uebrige. S. 719 „der franzö¬
sische Bauer stand freiheitlich unendlich höher als in den Nachbarländern",
S. 704 schon hieß es von ihm mit taciteischer Prägnanz, „er war nicht mehr
Leibeigener, ja sogar Grundbesitzer." S. 719 kommt dann das Buch in
diesem Zusammenhange auch auf den Terrorismus, „auf die blutrünstigen
Greuel, wie sie der Despotismus kaum je ärger geschaffen", und wir lesen die
greulichen Worte: „So sehr man diese schuldlosen Opfer beklagen möge,
wahrscheinlich ist doch kein Haupt zu viel unter dem Beile der Guillotine ge¬
fallen, denn das Feld menschlicher Kultur will seinen reich¬
lichen Dung haben, und dieser Dung ist — Blut, in einer
oder der andern Weise." Der „gütige Leser" sei hier erinnert, daß der
Dung in demjenigen Theil unseres Vaterlands, in welchem H. v. H. das
Ausland redigirt, dasjenige bezeichnet, was die Elementarschüler des Landes
in ihren schriftlichen Arbeiten den Dünger zu nennen angehalten werden.

Man pflegt diesen wichtigen Stoff auch wohl Mist oder, wie H. v. H.
vielleicht schreiben würde, Myst, zu nennen: er scheint uns nicht nothwendig
immer in Blut bestehen zu müssen. Vielleicht dürfen wir ihn auch in der
Tinte begrüßen, mit welcher der Verfasser die Häupter der neueren deutschen
Philosophie, welche ihm die „spiritualistisch en Mystiker" zu nennen ge¬
fällt — er nennt Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Ed. v.
Hartmann — auf S. 788 schildert. „Wie die vorphilosophischen My¬
stiker ihren überirdischen Schöpfer sogleich zur Hand hatten, so nicht minder
die spiritualistisch en Mystiker" (Kant). „Das Gewirre der aus- und
ineinander laufenden Fäden der deutschen Philosophie und ihrer ausländischen
Nachfolger bedrückt den nach Klarheit strebenden Denker in demselben Maße,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/140>, abgerufen am 28.09.2024.