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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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daß die S. 404 gemeinte Theilung des römischen Reichs nicht durch Dio¬
kletian, sondern durch Theodosius geschah, meinen wir fast so gewiß zu wissen,
als daß der Ostgothe Alarich S. 421 eigentlich ein Westgothe war: und
sollte H. v. H. nicht falsch berichtet sein, wenn er S. 391 sagt, daß Jesus
ebenso wenig Schriften hinterlassen habe, als Solon, mit dem er viel¬
fach vergleichbar ist -- -- wirklich? derselb.e Solon, der das große
Dicterlon in Athen gebaut hat? Oder sollte der Culturforscher, der Vertreter
und Vorkämpfer des "von der Wissenschaft mit unwiderleglicher Kraft gelehrten
Monismus" vielleicht Solon mit Sokrates verwechselt haben? Für den Verlust
der Schriften Solon's können wir uns einigermaßen durch die von H. v. H. ent¬
deckten "Schriften Cakjamunis" entschädigen, von welchen es S. 475 heißt,
daß der Qoran in seiner Philosophie unvergleichlich tiefer stehe als sie.

Von S. 390 an beschäftigt sich das Buch auch mit dem Christenthum. Es
findet sich in dem ganzen Werke nicht die geringste Spur, daß sein Ver¬
fasser von der Existenz des Neuen Testaments, geschweige seines Inhalts irgend¬
welche Kenntniß hat, er scheint dasselbe nur vom Hörensagen zu kennen.
3 mal, so viel wir sehen, citirt er überhaupt die Bibel, 2 mal nach der
Vulgata, lateinisch, einmal Leo. XVIII, wo er allerlei hineinliest, was nicht
darin steht. Von dem, was die christliche Weltanschauung wirklich charakrerisirt,
können wir in dem Buche schlechterdings Nichts entdecken: wie ihm das Gebet
irgendwo "reiner Schamanismus" ist, so ist ihm die christliche Religion ein
Phänomen, von dem er sich aus sekundären und tertiären Quellen eine eben
so verworrene Vorstellung zurecht, gemacht hat, wie über römische Verfassung,
Senat, Meester, Feudalismus und vieles Andere. "Der Ursprung der neuen
Lehre ist dunkel," beginnt er, dann kommt die Stelle über Jesus und Solon,
in seiner Anm. 5 ebendort lesen wir die merkwürdigen Worte, daß Renan
wohl bis an die äußerste Grenze dessen gegangen sei, "was sich zugeben läßt,
um den historischen Charakter Jesu zu retten;" der Verfasser "überläßt die
Evangelienkritik andern" und begnügt sich zu erinnern, "daß dieenglische darin
minder skeptisch ist, als die tübinger Schule, ja selbst als Renan:" was be¬
weist, daß er weder von Renan noch von der tübinger Schule noch von der
"englischen Evangelienkritik" eine klare Vorstellung hat. Daß er uns eine
Schilderung der theologischen Streitigkeiten erspart, ist mit Dank anzuer¬
kennen: es würde ihm dabei gegangen sein, wie dem Heidenthum auf S. 407,
wo dasselbe "an sich selbst'gescheitert ist:" "selbstverständlich." sagt dieser
gründliche Kulturforscher, "war es völlig gleichgültig, welche von beiden
Lehren, ob der Arianismus oder Katholicismus den endgültigen Sieg davon
trug" -- und wenn wir Alles zusammenstellen wollten, was in den Augen des
Verfassers gleichgültig und "belanglos" ist, so bliebe kein Grund übrig, über
all das belanglose Zeug, Poly- und Monotheismus, Republik und Monarchie,


daß die S. 404 gemeinte Theilung des römischen Reichs nicht durch Dio¬
kletian, sondern durch Theodosius geschah, meinen wir fast so gewiß zu wissen,
als daß der Ostgothe Alarich S. 421 eigentlich ein Westgothe war: und
sollte H. v. H. nicht falsch berichtet sein, wenn er S. 391 sagt, daß Jesus
ebenso wenig Schriften hinterlassen habe, als Solon, mit dem er viel¬
fach vergleichbar ist — — wirklich? derselb.e Solon, der das große
Dicterlon in Athen gebaut hat? Oder sollte der Culturforscher, der Vertreter
und Vorkämpfer des „von der Wissenschaft mit unwiderleglicher Kraft gelehrten
Monismus" vielleicht Solon mit Sokrates verwechselt haben? Für den Verlust
der Schriften Solon's können wir uns einigermaßen durch die von H. v. H. ent¬
deckten „Schriften Cakjamunis" entschädigen, von welchen es S. 475 heißt,
daß der Qoran in seiner Philosophie unvergleichlich tiefer stehe als sie.

Von S. 390 an beschäftigt sich das Buch auch mit dem Christenthum. Es
findet sich in dem ganzen Werke nicht die geringste Spur, daß sein Ver¬
fasser von der Existenz des Neuen Testaments, geschweige seines Inhalts irgend¬
welche Kenntniß hat, er scheint dasselbe nur vom Hörensagen zu kennen.
3 mal, so viel wir sehen, citirt er überhaupt die Bibel, 2 mal nach der
Vulgata, lateinisch, einmal Leo. XVIII, wo er allerlei hineinliest, was nicht
darin steht. Von dem, was die christliche Weltanschauung wirklich charakrerisirt,
können wir in dem Buche schlechterdings Nichts entdecken: wie ihm das Gebet
irgendwo „reiner Schamanismus" ist, so ist ihm die christliche Religion ein
Phänomen, von dem er sich aus sekundären und tertiären Quellen eine eben
so verworrene Vorstellung zurecht, gemacht hat, wie über römische Verfassung,
Senat, Meester, Feudalismus und vieles Andere. „Der Ursprung der neuen
Lehre ist dunkel," beginnt er, dann kommt die Stelle über Jesus und Solon,
in seiner Anm. 5 ebendort lesen wir die merkwürdigen Worte, daß Renan
wohl bis an die äußerste Grenze dessen gegangen sei, „was sich zugeben läßt,
um den historischen Charakter Jesu zu retten;" der Verfasser „überläßt die
Evangelienkritik andern" und begnügt sich zu erinnern, „daß dieenglische darin
minder skeptisch ist, als die tübinger Schule, ja selbst als Renan:" was be¬
weist, daß er weder von Renan noch von der tübinger Schule noch von der
„englischen Evangelienkritik" eine klare Vorstellung hat. Daß er uns eine
Schilderung der theologischen Streitigkeiten erspart, ist mit Dank anzuer¬
kennen: es würde ihm dabei gegangen sein, wie dem Heidenthum auf S. 407,
wo dasselbe „an sich selbst'gescheitert ist:" „selbstverständlich." sagt dieser
gründliche Kulturforscher, „war es völlig gleichgültig, welche von beiden
Lehren, ob der Arianismus oder Katholicismus den endgültigen Sieg davon
trug" — und wenn wir Alles zusammenstellen wollten, was in den Augen des
Verfassers gleichgültig und „belanglos" ist, so bliebe kein Grund übrig, über
all das belanglose Zeug, Poly- und Monotheismus, Republik und Monarchie,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/135>, abgerufen am 28.09.2024.